Krieg dem Kindersex in Frankreich

Auf eine Häufung aufsehenerregender Fälle folgt eine landesweite Razzia, die Einrichtung eines anonymen Sondertelefons und eine neue Diskussion über die Todesstrafe  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

„Hallo, mißhandelte Kindheit“, lautet die Ansage unter der französischen Telefonnummer 119. Die Notrufnummer – die auf den Telefonrechnungen nicht erscheint, um Kinder vor ihren Eltern zu schützen – funktionierte gestern zum erstenmal. Sie war stundenlang besetzt.

Ministerpräsident Alain Juppé hatte am Donnerstag entschieden, den Notruf auf die Nummer 119 zu vereinfachen und künftig kostenlos zu gestalten. Der Dienst an sich hat bereits vorher existiert: Allein im Jahr 1995 registrierte er 200.000 Anrufe – meist von hilfesuchenden Kindern, die mißhandelt worden waren. 2.778 „Fälle“ erschienen den Telefonberatern dramatisch genug, um sie an die Sozial- und Justizbehörden weiterzuleiten. Insgesamt gehen die Behörden für das Jahr 1995 von rund 65.000 Kindesmißbräuchen aus.

Juppés Notrufentscheidung war die erste politische Reaktion auf „Willy“ – die bislang größte Razzia im französischen Kinderpornographie-Milieu. Am Mittwoch abend waren dabei in 73 Departements insgesamt 213 Personen festgenommen worden – eine bunte Mischung der französischen Gesellschaft, darunter Geschäftsleute, Lehrer, Journalisten und mindestens eine Frau. Bei ihnen hatte die Polizei Videokassetten gefunden, die Pornographie mit Minderjährigen zeigen.

Die meisten der für die Filme mißbrauchten Kinder stammen aus dem ostfranzösischen Metz und aus Korsika. Das jüngste gefilmte Opfer ist nach Auskunft der Polizei nicht einmal ein Jahr alt.

Vierzig Verdächtige, denen in Einzelfällen nicht nur der Handel mit den verbotenen Videos, sondern direkt Kindesmißbrauch und Vergewaltigung vorgeworfen werden, saßen gestern noch in Haft. Ein Korse, in dessen Videokamera die Polizisten einen „frischen“ Vergewaltigungsfilm fanden, hat in der Haft mehrere Vergewaltigungen von Jungen aus seiner Nachbarschaft gestanden.

Auf die Spur des landesweiten Pädophilennetzes waren die französischen Ermittler bereits im Herbst gestoßen. Bei einem Händler hatten sie Kinderpornos auf Video gefunden, die teilweise innerhalb von Erwachsenenpornos enthalten waren. Ein Komplize des Händlers hatte die Kinder seiner angeblich nichtsahnenden Freundin für die Sexszenen mißbraucht. Die Ermittlungen ergaben, daß die von Amateuren kopierten Videos für mehrere hundert Franc gehandelt werden. Als Kontaktpunkte benutzten die Pädophilen mehrere Telefonnummern des „Minitel“ (das französische BTX-System) sowie das Internet.

Erst die Minitel-Adressen, bei der die Kinderporno-Kunden akribisch aufgelistet waren, machten die große Operation „Willy“ überhaupt möglich. Zeitgleich mit dieser Razzia wurden die Minitel- Adressen „neutralisiert“. Beim Internet hingegen scheiterten die Ermittler bislang – dort konnten sie weder die Codes knacken noch die „Treffpunkte“ neutralisieren.

Die Öffentlichkeit reagierte auf den neuen Skandal entsetzt. Seit der „Dutroux-Affäre“ im benachbarten Belgien sind in Frankreich schon mehrere schwere Sexualverbrechen bekanntgeworden. Im vergangenen Monat wurden bei der nordfranzösischen Stadt Boulogne vier junge Mädchen vergewaltigt und ermordet; als mutmaßliche Täter gelten zwei bereits wegen Vergewaltigung und Mord vorbestrafte Brüder aus der Region. Seit Wochen wird landesweit die verschwundene Marion gesucht, deren Eltern in ihrer Verzweiflung das Foto und den Namen des Mädchens auf Millionen von Milchtüten haben drucken lassen. In dieser Woche erscheint das Konterfei des Mädchens auch auf mehreren Zeitschriftentiteln. Außerdem wurde in der vergangenen Woche war ein Familienvater auf frischer Tat ertappt, als er versuchte, ein Schulmädchen zu entführen.

In die ersten Reaktionen nach den Vergewaltigungen und Morden von Boulogne mischte sich der Ruf nach der Todesstrafe für Sexualverbrecher.

In der gegenwärtigen Pädophilendebatte taucht nun immer wieder die Forderung nach Kastration auf. Parallel dazu diskutiert derzeit die französische Regierung über einen Gesetzentwurf, wonach Sexualstraftäter dazu verurteilt werden sollen, sich zusätzlich und nach Absitzen ihrer Gefängnisstrafe einer Behandlung – möglicherweise auch mit Hormonen – zu unterziehen. Darüber hinaus plant Frankreich in diesem Jahr eine Reihe weiterer Maßnahmen gegen den Kindesmißbrauch: Als erstes sollen Fernsehspots mit prominenten Künstlern und Journalisten das Thema zu einer „großen nationalen Angelegenheit“ machen.