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: Im BE spricht Rudi Thiessen über Kapitalismus als Religion

Rudi Thiessens Dissertation hat den Titel „It's only Rock 'n' Roll but I like it“, seine Habilitation über das blasierte Kind erscheint demnächst, zehn Jahre nach ihrem Entstehen. Als Beitrag zur Kapitalschulung, die das Berliner Ensemble seit einem Jahr anbietet, wird der Religionswissenschaftler und Volkswirt heute seine Arbeitsgebiete verknüpfen und über „Kapitalismus als Religion“ sprechen. Bei diesem Titel fällt einem natürlich zuerst Max Webers protestantische Ethik ein – er stand aber über einer Notiz, die im Nachlaß Benjamins gefunden wurde, und sowieso wird es heute abend um Batailles Theorie der Verschwendungsökonomie gehen. Für die gibt Bataille Beispiele, die Theissen sympathisch findet, wie das der Tibeter, die vier Fünftel ihrer männlichen Bevölkerung in Klöstern halten und dadurch vom Produktionsprozeß abziehen, wodurch keine Überschüsse und keine Kämpfe darum entstehen können. Unsympathisch findet er hingegen die Verpflichtung zum Heiligen Krieg, der die Muslime unterworfen sind.

Da wären wir schon bei der Religion. Das mittelalterliche Christentum habe durch die Errichtung wahnsinnig teurer, auf 300 Jahre projektierter Kirchenbauten ein schönes Beispiel für Verschwendung gegeben, der heutige Kapitalismus aber habe vergessen, daß sein Arbeitsethos aus der protestantischen Vorstellung vom Gottesdienst gekommen sei, und produziere stabil Überschüsse, ohne eine Idee zu haben, wie sie verschwendet werden könnten. Zwar hält Thiessen den Sozialstaat, den die BRD nach dem Kriege errichtete, im Prinzip für ein schönes Verschwendungsprojekt, aber für ein in diesem Sinne nicht positiv definiertes. Vielmehr diene das institutionalisierte Almosenverteilen nur der Abfederung der unerwünschten Nebenfolgen des Kapitalismus, ohne das Eingeständnis, daß der Kapitalismus selbst katastrophal enden werde.

Als gutes Verschwendungsprojekt gilt Thiessen heute die Weltraumforschung. Die im Ostblock üblich gewesene Verschwendung findet er dagegen unintelligent, weil sowohl die ökonomische als auch die ökologische Substanz verzehrt worden sei. Unintelligent sei auch das derzeitige Verschwendungsprojekt Transfer West nach Ost. Im Gegensatz zu den großen Religionsgründern und Staatenlenkern wie Moses oder Churchill, die ihren Völkern sagten, sie müßten erst durch die Wüste gehen respektive Blut, Schweiß und Tränen vergießen, habe Helmut Kohl die blühenden Landschaften sofort versprochen und die Anstrengungen auf dem Wege dorthin verschwiegen. Und da stünden wir nun. Zumal die Überschüsse nicht durch Religion gebunden seien, so daß sich Egoismen breitmachten und das Geld ins Ausland transferiert werde, statt es hier zu investieren. Weswegen wir uns nunmehr mit den Problemen des 19. Jahrhunderts herumschlügen.

Genaueres ist heute abend im BE zu hören. Eine neue Religion soll allerdings nicht gegründet werden. Iris Hanika

Heute, 20 Uhr, Berliner Ensemble, Bertolt-Brecht-Platz