■ Metropolöser Besuch in der Provinz
: Berliner Fremdelphasen

Gelegentlich erhält man Besuch aus anderen Städten dieses Landes. Das ist überhaupt nichts Schlimmes, sondern vielmehr schön und meistens sogar bereichernd, hängt den Besuchern doch immer auch eine Prise regionuntypischer Exotik in den Klüngeln, die sie auf der Reise nicht auslüften konnten. Kommt der Besuch beispielsweise aus der großen, multikulturell geprägten, beneidenswert kosmopolitischen Metropole Berlin, kann man immer sicher sein, daß das eigene, eher provinziell geprägte Dasein nach dessen Abreise wieder um etliche Facetten ungekannter Denk- und Wirkungsweisen erweitert wurde.

Erheiternd, aber den Gastgeber auch regelmäßig mit verhaltenem Stolz erfüllend, sind etwa die in den ersten Stunden des Besuchs recht bizarren Reaktionen der gemütsharten Hauptstädter auf dieserorts eher gewöhnliche zwischenmenschliche Verhaltensweisen. Verwundert bis erschrocken, manchmal sogar zuckend und schüttelnd nimmt der Berliner freundliche Ansprache entgegen. Lähmende Sprachlosigkeit und Augenstarre bemächtigen sich seiner beispielsweise, wenn er in einer Gaststätte mit Dienstleistungsstandards wie „Was kann ich für Sie tun?“ oder „Haben Sie noch einen Wunsch?“ angesprochen wird. Gerade so, als habe er derartige Höflichkeitsfloskeln nie in seinem Berliner Leben vernommen, ist er anfangs nahezu unfähig, eine Bestellung aufzugeben oder einfach nur „Nein, danke“ zu sagen. Das übernimmt dann selbstredend der fürsorgende Gastgeber, wohl wissend, daß dies nur eine vorübergehende, an frühkindliche Fremdelphasen erinnernde Erscheinung ist, die zumeist schon nach 12 Stunden langsam beginnt sich zu legen.

Wie auch der schroffe, knarzende Umgangston des Metropolösen unter dem besänftigenden Einfluß human parlierender Provinzler sich recht schnell anzupassen pflegt, so daß er das Vorurteil „Wenn Berliner sprechen, antworten die Hunde“ schon bald nicht mehr bestätigt.

Ist diese kommunikationsklimatische Anpassung erst einmal vollzogen, bereichert der spritzige Berliner das Leben in den schläfrigen Outbacks doch ungemein. Weltstädtisch-originell seine Wortartistik („icke“, „dette“, „knorke“), bohemienisch seine Eßgewohnheiten („Ah, Austan, habick im KaDeWe jeden Tach, wennick will, undzwa frischa wie hier, wa“) und neidischmachend sein unvergleichlicher Anekdotenfundus, gespeist aus der Internationalität seines täglichen Umgangs. Wer anders als ein Insasse der russengesättigten Ex-Frontstadt könnte einem etwa derart detailgenau über die abseitigen Vorlieben der rauschversessenen Iwans Bescheid geben, die sich eben nicht nur wie allgemein bekannt regelmäßig Wodka zwischen die Ganglien kippen, bis der Arzt kommt, sondern vielmehr auch „Schuhcreme in vorher aufgeritzte Kopfhautwunden schmieren, weil das noch direkter und billiger törnt!“.

Vorurteilsbeladene werden nun einwenden, daß es genau diese Art der planmäßigen Verstümmelung sei, die den Berliner zu jenem verwirrten, ichbezogenen und verabscheuungswürdigen Quälgeist mache, den die Welt nicht brauche. Neige er doch dazu, partout nichts von zivilisierten Kulturen anzunehmen, okkupiere aber sofort rücksichtslos, wenn Sitten und Gebräuche anderer Völker noch erbarmungswürdiger seien als seine eigenen. Sicher hätten die Berliner mehrheitlich längst die russische Methode übernommen und deswegen die ganzen Kopfgehäuse randvoll mit Schuhwichse.

Man muß zugeben, diese Theorie könnte einiges erklären. Viele ansonsten schwer zu entschlüsselnde berlinische Verhaltensauffälligkeiten ließen sich relativ logisch auf diese Ursache zurückführen. Bestätigt werden kann die These von dieser Seite aus jedoch nicht, denn zumindest im Beisein des Provinzbetreuers kam es noch nicht zu solchen Exzessen.

Doch selbst wenn die Schuhcremebegründung sich als stichhaltig herausstellte, muß Berliner Anwesenheit in Restdeutschland ganz grundsätzlich positiv, nämlich als lehrreiches Ereignis („iwänt, wa“) gelten gelassen werden. Man muß dem Besuch etwas Geduld und Pflege gönnen. Dann aber ist er aufschlußreich, horizonterweiternd und augenöffnend. Fritz Eckenga