Scheuklappe „Orien- tierungslosigkeit“

■ betr.: „Der Abschied vom sozialen Abstieg“ von Johannes Goebel, taz vom 8./9. 3. 97

Oh, wie ich es liebe, dieses Blabla aus den Elfenbeintürmen universitärer Seminare, wo Horden junger „intellektueller“ Studierender über die Zukunft der Arbeitsgesellschaft sinnieren und dabei zumeist den Fehler machen, sicherlich interessante und durchweg notwendige Zukunftsentwürfe als schon real bestehend anzunehmen. Woher stammt denn diese Weltfremdheit der morgigen geistigen „Eliten“, fragt man sich da als verzweifelter Exfacharbeiter, der sich auf dem zweiten Bildungsweg in die Universität „eingeschlichen“ hat.

Die Beantwortung dieser Frage ergibt sich sehr schnell aus der Zusammensetzung, die man in der Regel an den Unis antrifft: ehemalige Gymnasiasten aus zumeist gutbürgerlichem Hause (was für die meisten hierbei heißt: Miete, Lebensmittel – was, es gibt Leute, die müssen für so etwas arbeiten?), die ihre „verschulte“ Karriere ohne Brüche an der Uni fortsetzen und deren einzige Erfahrungen mit der Realität all derjenigen, die nach Haupt- oder Realschule arbeiten müssen, um ihr Leben finanzieren zu können, sich auf ein Jahr Zivildienst (wenn sie denn männlich sind; daß ein Jahr Bundeswehr nichts mit der Realität zu tun hat, scheint mir hier unstrittig) und einige Wochen Ferienarbeit (die sehr, sehr wenig mit der Arbeitsrealität von Festbeschäftigten zu tun hat) beschränken.

Die Angst eines Teils dieser Leute vor der „drohenden“ Arbeitsgesellschaft, die sich mit dem Studienende und der damit verbundenen Aufgabe des bis dahin einzig gewohnten und oftmals auch als ganz angenehm empfundenden verbindet, ist sicherlich verständlich. Berücksichtigt man dann noch die verhältnismäßig hohe Akademikerarbeitslosigkeit, erklärt sich auch die teilweise schon zynische Beurteilung, die viele Studies ihrem Studium und erst recht ihrer Zukunft (sei das jetzt Rente oder Beruf oder ...) entgegenbringen.

Doch halt, gehen wir doch mal aus dem geisteswissenschaftlichen Bereich heraus und sehen uns diejenigen an, die ein „ordentliches“ Studium betreiben, wie zum Beispiel Wirtschaftswissenschaft, Jura usw. Hier ergibt sich meist ein anderes Bild: mit 20 schon eine Krawatte und mit 27 bereits 50 bis 70 Stunden die Woche arbeiten, um „aufzusteigen“. Orientierungslos, ja schon, was Mensch vielleicht unter apolitisch bis zum Exzeß bezeichnen würde, dabei aber immer „leistungsbereit“, um das mitzumachen, was uns die Religion Marktwirtschaft als Himmel auf Erden anpreist, nämlich konsumieren um jeden Preis (und dies im wahrsten Sinne des Wortes). Spätestens hier wird es aber lächerlich, wenn ein Mitbetreiber einer Werbeagentur, gewissermaßen einer der neuen Hohepriester des marktwirtschaftlichen Transmissionsriemens Werbung, die, ohne große Brüche den Staffelstab einer anderen zutiefst reaktionären Vereinigung, nämlich der Kirchen, übernommen hat, eine Tugend in der „Orientierungslosigkeit“ entdeckt zu haben glaubt. Hängt denn ein Herr Goebel mit seiner Arbeit eine andere Wurst bzw. Karotte an das Ende der Stange, hinter der wir alle nachzutraben haben, wie es eine Kirche über Jahrhunderte machte, um die arbeitenden Menschen klein zu halten? Sicherlich, früher versprach man noch am Ende eines „braven“ und arbeitsamen Lebens das Paradies, heute dagegen schon während dieses Lebens einen Geschirrspüler, einen neuen Spoiler oder gar die lila Kuh, doch wo ist hier der Unterschied? In diesem Zusammenhang bekommt die Scheuklappe Orientierungslosigkeit freilich eine ganz andere Qualität, sie ist nämlich für bestimmte Interessen und bestehende Macht- bzw. Besitzstände mehr als nützlich.

Apropos Besitzstände. In diesem Zusammenhang von abhängig Beschäftigten zu sprechen, die sich im Laufe von Jahrzehnten mühevoll einen kleinen Anteil an der Kapitalverteilung in dieser unserer Republik erkämpften, und zwar mehr als mühevoll erkämpft haben, zeigt doch nur zu deutlich, wohin „Orientierungslosigkeit“ führt, nämlich ohne große Umwege in das unreflektierte Nachplappern vorgegebener neoliberaler Ansichten, die durch unsere Medien tagtäglich unters Volks geworfen werden. Beispiel Post: Da ich mir mein Studium über regelmäßige Zustellarbeiten während der Semesterferien bei derselbigen verdiene, sehe ich an den Menschen selber, was die Aufgabe des Briefmonopols (als Teil der Postprivatisierung) bedeutet. Mein lieber Herr Goebel, das bedeutet unter anderem, alte Menschen, denen man auf dem Land das Postamt zusperrt, Arbeitslosigkeit für viele PostlerInnen und einen zunehmenden Druck auf jeden einzelnen bzw. jede einzelne. Druck, der hier sehr viel mehr Arbeiterschweiß bedeutet, den man Ihrer Meinung nach ja angeblich immer weniger benötigt, um ein „produktives, erfülltes Leben“ zu führen.

Leider muß ich Goebel recht geben, daß die meisten jungen Menschen dies nicht als unmoralisch empfinden, weil, und das ist nach x Jahren FDP-Regierungsbeteiligung und einer politischen Ewigkeit eines Kanzlers Kohl nicht verwunderlich, der Egoismus wuchert und die Chance der Individualisierung der Persönlichkeiten im Zeitalter der „Globalisierung“ und der neoliberalen Konkurrenzgläubigkeit zu einem einzelkämpferischen Selbständigkeitswahn Marke: jeder gegen jeden bewußt bzw. unbewußt deformiert worden ist.

Sicherlich fordere ich hier kein Comeback von Disziplin, Ordnung und Sekundärtugenden, wie es ein Herr Goebel quasi all denjenigen unterstellt, die sich gegen seine Ansichten aussprechen, um sich anschließend dergestalt als progressiver Modernisierer entpuppen zu können, der weder er noch seine so von ihm Dargestellten (und leider ja auch so bestehenden) jungen Menschen (die sich allerdings vor allem auf ein, gesellschaftlich gesehen, kleines Grüppchen Studierender und hier natürlich auch nicht alle, beschränken) sind und jemals sein werden, auch wenn sie uns das noch so oft einzureden versuchen.

Statt, wie er jetzt, zutiefst resignierend und schon im Vorfeld feige kapitulierend, sich mit einer Gesellschaft von McJobbern, langzeitstudierender Lebenskünstler, Teilzeitselbständigen (mit sicherlich hervorragenden sozialen Absicherungen) und (gutbezahlten) Werbeleuten abzufinden, ist es notwendig, für eine lebenswerte, das heißt solidarische Gesellschaft aktiv zu kämpfen, die das ermöglicht, was dieser Republik am meisten fehlt, nämlich einer gerechteren Verteilung der wahren Besitzstände.

Was wir nicht brauchen, sind Leute, die aus unpolitischer Einstellung, Anpassertum und Konsumwahn eine Tugend basteln und dies als ebenso neue wie unnötige Phrase unter das Volk werfen.

Ich bin übrigens 27 Jahre alt, habe den Beruf eines Energiegeräteelektronikers gelernt und studiere zur Zeit in Marburg Politikwissenschaft (dies nur, um zu zeigen, daß es auch noch andere junge Menschen gibt, die mit änlichen Voraussetzungen zu anderen Schlüssen kommen). Rainer Berger, Wasserburg/Inn

Lieber Johannes, ich befürchte, die Tugend der Orientierungslosigkeit ist leider wieder nur eine weitere Tugend zum Ausnützen der Mütter. Das sogenannte „andere“ der Jugendkulturen ist das „alte Lied“: Mama, haste mal 'ne Mark, denn ich finde alles Scheiße und bin mir überhaupt zu schade, die Heerscharen der erziehenden Frauen zu entlasten.

Die Trendkulturen der Postmoderne sind nichts anderes als der Trend zurück zur Ausbeutung der Frauen im Bereich der Reproduktion; denn die müssen es ausbaden. Wo sollen die jungen, vor Erwerbsarbeit „beschützten“, von politischer Reflexion und Mitsprache ausgeschlossenen Menschen denn hin, wenn nicht hinter Mutters warmen Ofen. Die hat sowieso ihr ganzes Leben nur gegeben, hauptsächlich den Kindern (natürlich auch den Männern); warum soll das nicht immer so weitergehen. Die Frauen wehren sich ja am allerwenigsten, das kennt man ja.

Muttern bekommt zwar jetzt schon trendmäßig 1.000 DM weniger Rente im Monat als Vater, trotzdem reicht es immer noch für Sprößlings Ration Ecstasy oder die Fahrkarte zur nächsten Demo sonstwohin. Wir wollen alle gegen Rentenkürzungen und Vater Staat protestieren, haben jedoch diese Kleinigkeit vergessen: Das Patriarchat ist nichts anderes als die Unterdrückung der Frauen. Ohne die kostenlose Arbeit unserer Frauen gäbe es keine patriarchalische Herrschaft. Ohne rentenbezügliche Geringschätzung von Erziehungsarbeit keine Staatshaushaltskonsolidierung. Das soziale Elend der Frauen in jungen und besonders in vorgerückten Jahren ist unser Wohlstand und sonst gar nichts. Nach der Unterdrückung (von Frauen) kommt die Moral (der Jugendlichen). Die Orientierungslosigkeit des jugendlichen Patriarchats bedeutet, daß es weder vom Patriarchat weiß, noch daß es ein Teil davon ist.

Wer weiß, vielleicht zerfällt das Patriarchat ja in ferner Zukunft mit den illusionären Lebenswelten junger Menschen. Das wäre allen Lückenbüßerinnen des Patriarchats zu wünschen. Thomas Dauskardt,

Bönningstedt