■ Auf dem Skanderbeg-Platz in Tirana demonstrierten gestern Tausende Albaner für Ruhe und Versöhnung. Das Schießen in den Vororten war verstummt. Aber immer noch wollten viele fort.
: Tirana feiert seine Zivilisten

Auf dem Skanderbeg-Platz in Tirana demonstrierten gestern Tausende Albaner für Ruhe und Versöhnung. Das Schießen in den Vororten war verstummt. Aber immer noch wollten viele fort.

Tirana feiert seine Zivilisten

„Bashkim, Bashkim“, skandierten gestern Tausende Menschen den Namen des neuen albanischen Ministerpräsidenten Bashkim Fino auf dem Skanderbeg-Platz im Zentrum Tiranas. Am nationalen Trauertag durften sie sich erstmals seit langer Zeit wieder bei der Statue des Nationalhelden versammeln. Es wurde eine ergreifende Demonstration der Versöhnung. Polizisten schwenkten Fahnen und Blumen, Eltern setzten ihre Kinder auf die Polizeifahrzeuge. Viele Leute wollten ihre Freudentränen nicht verbergen.

„Es ist, als ob wir aus einem bösen Traum erwacht sind.“ Der Schriftsteller Remzi Lani war nicht der einzige, der dieses Gefühl äußerte. Albaniens Hauptstadt war wie verwandelt. Das Schießen in den Vororten war praktisch verstummt, die Menschen strömten auf die Straßen. Junge, Alte, Liebespaare, Freunde, die sich umarmten – und allen stand die Erleichterung im Gesicht geschrieben. Erste Witze über die aus der Haft geflohenen Finanz-Pyramiden-Chefs machten die Runde.

Die Kaffeehäuser waren voll von rauchenden und schwatzenden Männern, und die Bauern boten auf dem Markt wieder ihre Waren feil. Vor den Brotläden gab es keine Schlangen mehr. Schlangen gab es dafür vor der US-Botschaft, die auch am Samstag fast pausenlos mit Helikoptern Ausländer ausfliegen ließ. „Das Geld dieser Aktion hätten sie lieber in Hilfslieferungen gesteckt“, räsonierte ein albanischer Journalist. Der Aufbruch der Ausländer hat viele Albaner in ihrem Stolz verletzt.

Die Leute machen sich aber keine Illusionen. Die Lage war am Wochenende zwar ruhig, aber die Angst vor Provokationen besteht nach wie vor. „Erst wenn die Munition verschossen ist, wird die Gefahr deutlich geringer“, meinten drei Jugendliche, Angestellte in einem Billardsalon. „Hoffentlich bringt dieses Leiden wenigstens etwas Neues, Besseres hervor“, wünschte sich eine Rentnerin. Radio und Fernsehen senden Appelle zur Versöhnung. Eine christliche Organisation läßt Flugblätter verteilen, die die Menschen auffordern, sich die Hände zu reichen.

Über den großen Boulevard im Zentrum bewegt sich langsam ein langer Trauerzug. Ein 18jähriger Jugendlicher wird zu Grabe getragen. Auch er hatte solche Handzettel verteilt und war dabei von einem Irrläufer getötet worden. Er war einer von 18 Menschen, die in den letzten drei Tagen Opfer der Schießereien wurden.

Hunderte von Männern versammelten sich am Samstag morgen vor dem Innenministerium. Sie alle waren einem Aufruf Premier Finos gefolgt, sich für gutes Geld als Freiwillige zur eilends geschaffenen Bürgerwehr zu melden, die zusammen mit der Polizei wieder für Ruhe und Ordnung sorgen soll. Die ersten von ihnen kamen in einer martialischen Demonstration der Stärke gleich zum Einsatz. In Schützenpanzern und großen Polizeifahrzeugen drehten sie in der Stadt ihre Runden, um zu zeigen, daß die staatliche Ordnung langsam wieder Fuß faßt – zumindest in Tirana.

Fino hatte auch alle Albaner aufgerufen, Parteiinteressen zurückzustellen. „Unsere Partei ist Albanien“, so die Botschaft. Mit der Absetzung des Chefs der gefürchteten Geheimpolizei „Shik“, die Präsident Sali Berisha unterstellt war, und ihrer Überführung in das Innen- und Verteidigungsministerium sollen die Sicherheitskräfte entpolitisiert werden. Dem Fernsehen trug Fino auf, in Zukunft objektiv zu informieren.

Eine der vordringlichsten Aufgaben der Regierung der Nationalen Versöhnung ist das Einsammeln der Waffen. Zwar haben die ersten Leute begonnen, ihre Gewehre zurückzugeben, aber niemand glaubt daran, daß die Entwaffnung schnell abgeschlossen werden kann. „Appelle werden nicht genügen“, erklärte gestern ein Major der Pioniere. Es brauche ein strenges Gesetz, das verbiete, Waffen auf der Straße zu tragen und Zuwiderhandlungen mit hohen Geld- oder sogar Gefängnisstrafen belege. Ein anderer Vorschlag geht dahin, die Besitzer der Waffen zu registrieren und die Waffen nicht zu Hause, sondern in einem staatlichen Depot aufzubewahren. Astrid Frefel, Tirana