Tagesausflug in die eigene Geschichte

■ Graham Swift liest aus seinem „Booker Prize“-prämierten Roman „Letzte Runde“

Es ist ein sonniger Tag in Bermondsey, London. Gerade der richtige, scheint es, für einen Ausflug ans Meer. Für eine kleine Spritztour des ortsansässigen Herrenklubs. Es sollte also gar nicht wundern, daß die vier Männer am Tresen gleich in ein Auto steigen und die Old Kent Road davonbrausen. Es wundert aber doch. Denn Ray, Buchhalter, und Lenny, Obsthändler, und Vince, Gebrauchtwagenhändler, und Vic, Leichenbestatter, steigen, „Himmel!“, in einen königsblauen Mercedes mit cremefarbenen Sitzen.

Schon der erste Satz des Romans hatte darauf verwiesen, daß kein gewöhnlicher Tag sei. Das erklärt sich mit der Tatsache, daß die vier Herren im Auto fünf sind. Ray, Vic, Lenny, Vince und – „wir alle fühlen das gleiche, jetzt, wo die Sonne scheint, und mit dem Bier in uns und der Fahrt vor uns: Als ob das etwas ist, was Jack für uns getan hat, um uns zu verwöhnen“– ihr Gönner Jack. Nur daß Jack in pulverisierter Form dabei ist. In einem Behälter„wie ein großes Pulverkaffeeglas, hat dieselbe Art von Schraubdeckel“. Noch hockt er bei Vic auf dem Schoß, aber bald wird man ihn, des leichteren Transports wegen, in einer Plastiktüte mit der Aufschrift „Feinkost“tragen. Und weiterreichen wie beim Staffellauf, weil jeder ihn mal halten möchte und jeder ihn auch los sein möchte und weil es gar nicht einfach ist, einem Freund die letzte Ehre zu erweisen.

Letzte Runde, der sechste Roman des Londoners Graham Swift, beschreibt nicht mehr als eine Autofahrt mit Umwegen an die See, wo die Männer ihrem Freund Jack, einst Schlachtermeister, den letzten Willen erfüllen und seine Asche ins Meer streuen. Mit 15 Kapitelüberschriften hat der Autor ihren Weg von Bermondsey nach Margate vorgezeichnet. Er hat noch den Mercedes bereitgestellt – dann ist er verschwunden. Ganz anders als in Waterland (1983, dt. 1984), Swifts erstem internationalen Erfolg, bei dem seine Schullehrtätigkeit bisweilen im dozierenden Ton des Erzählers nachklang, ist der Erzähler in Letzte Runde hinter seinen Figuren verschwunden. Die 35 Kapitel des Romans sind ausnahmslos innere Monologe und Beschreibungen des Geschehens aus der Sicht der Figuren. Diese Polyphonie der Stimmen macht aus der einen Reise viele: Tagesausflüge und Gewaltmärsche in die eigene Geschichte.

Denn während das Auto stringent von Ost nach West läuft, bewegen sich die Gedanken räumlich und zeitlich in alle Richtungen. Ausgangspunkt ist eine von Lenny lapidar formulierte Feststellung, die eigentlich eine Befürchtung ist; daß es nämlich „entweder zum Heulen oder der größte Witz unter der Sonne ist, wenn man am Ende seines Lebens wünscht, man wär jemand, der man nicht ist“. Angesichts des Todes und der Tatsache, daß Jacks Frau Amy an der Fahrt nicht teilnimmt, beginnen die 60jährigen, ihren Lebensplan vorsichtig an dem zu messen, was sie einst darunter verstanden, was aber irgendwann irgendwo zwischen Arbeit, II. Weltkrieg, Familie und Tresen in Vergessenheit geriet.

Es ist nicht die große philosophische Frage nach dem Sein an sich, die gestellt wird. Das „Warum?“der Männer ist simpler, konkreter, lebensrelevant: „Warum ich?“„Warum so?“Warum, zum Beispiel, hat sich nicht Amys Hoffnung bestätigt, daß der Krieg „schon alles zurechtrücken würde“mit ihrem „daneben gegangenem Baby“, der behinderten June? „Ein paar Dinge passieren“, raisonniert Ray, „wir haben sie vielleicht nicht gesehn oder gewählt, aber sie passieren trotzdem, so als hätten sie uns zuerst gesehen und gewählt, so als hätten sie uns kommen sehen, so als würden wir nicht völlig übergangen oder übersehen, auch wenn wir nicht der größte, klügste, smarteste Typ weit und breit sind“.

Graham Swift hat ein großes Buch über sogenannte kleine Leute geschrieben, das an keiner Stelle anbiedernd, überheblich oder auch nur milde lächelnd wäre. In einer je nach Beruf und Hobby unterschiedlichen Metaphernwelt – und im schwersten Cockney-Slang, der leider unübersetzbar ist – läßt er die Figuren ihre Welt beschreiben, melancholisch, lakonisch und humorvoll. Und trotz Besäufnissen, grober Sticheleien und einer Schlägerei während der Fahrt, gibt Letzte Runde die Männer nie der Lächerlichkeit preis, sondern beschreibt sie mit Hochachtung in ihrem konstanten – und gelungenen – Ringen um Würde.

„Die Dinge, die erzählt werden, und die, die nicht erzählt werden.“Der Halbsatz Amys ist Kern des Romans und schreit nach Vervollständigung. „Es ist eine Frage des Territoriums“, sagt Ray. „Jeder hat seinen eignen Raum um sich, und niemand kann dort hinein, und dann ist er eines Tages leer.“Dem 48jährigen Swift gelang es, jenes Territorium eindringlich mit Schrift zu besetzen. In England wurde er dafür mit dem angesehendsten Literaturpreis des Commonwealth, dem Booker Prize, ausgezeichnet. Da lächelt die Feinkosttüte. Christiane Kühl

Lesung heute, 20 Uhr, Literaturhaus, Schwanenwik 38