■ Nachschlag
: Minetti las Bernhard im BE

Minetti residiert kauernd auf einem rotsamtenen Thron. Schauspielerkönig Minetti, zarter alter König Minetti auf dem Purpurstuhl des Meisterschauspielers, auf den ihn Thomas Bernhard gesetzt hatte, damals, als er „Minetti“ schrieb und „Einfach kompliziert“ als Geschenk zu Minettis 80. Geburtstag, das ist schon zehn Jahre her, und Minetti seinen Lieblingsschauspieler nannte und einen durch und durch elementaren Geistestheaterkopf. Der Thron ist immer größer geworden in den letzten Jahren und Minetti immer ein bißchen kleiner, ein bißchen stiller.

Man hatte einen Thomas-Bernhard-Abend angekündigt. Es wurde ein Minetti-Abend. Naturgemäß. Denn niemand kann Bernhard-Stücke spielen wie Minetti. Und es kann auch niemand Bernhard-Texte lesen wie Minetti. Groß hebt seine Stimme an, wann immer er einen neuen Text beginnt, doch schon nach dem ersten Satz verliert er sich ganz ins Vorgelesene. Und mit ihm die Zuhörer. Michael Altmann hat an diesem Abend den undankbaren Job, Mitleser Minettis zu sein, Co-Leser, das heißt, sie sollen sich das Vorlesen eigentlich teilen. Schon gleich zu Beginn bittet Altmann Minetti, ihn auch mal dran zu lassen, denn er wisse schon, wenn Minetti sich erst mal in einen Bernhard-Text hineingelesen habe, sei er schwer wieder daraus zu befreien. Minetti lächelt: „Natürrrrlich, wann immer du Lust hast, mein Freund.“ Und liest schon los.

Es ist schwer, den Sog zu beschreiben, der entsteht, wenn Minetti Bernhard liest. Er liest eigentlich gar nicht, er murmelt, er singsangt immer leiser. Wie gesagt, er hebt groß deklamierend an und vergißt doch alle Schauspielerdiktion und Betonungslehren schon nach dem dritten Wort. Dann fließt es nur noch weich dahin. Das Gurgeln seiner Stimme, ein Vermurmeln, ein Verräuspern, ein Verheitern, ein glucksendes Flüstern, lachendes Hüsteln. Vieles versteht man gar nicht, über manche Passagen huscht er hinweg, weil er in der übernächsten Zeile schon eine besonders schöne Stelle weiß, aber die Melodie, der Klingklang seiner Stimme sind so eindringlich und leise und weich, daß man viel mehr zu begreifen meint, als bei den klar und deutlich und hart vorgetragenen Passagen Michael Altmanns.

Nein, das kann niemand schöner, Bernhard lesen, als Bernhard Minetti, der zarte Greis, der weise Flüsterer, der sich am Sonntag abend ganz langsam, immer leiser werdend aus dem Text herausgesungen hat. Volker Weidermann

Wieder am 20. 4., 20 Uhr, Berliner Ensemble, Probebühne