Fortschrittsglauben und Kleinstadtidylle

Die Berliner Geschichtswerkstatt führte auf einem historischen Rundgang durch die Siemensstadt: Zu dessen 150jährigem Jubiläum eine kritische Geschichte des Weltkonzerns  ■ Von Thekla Dannenberg

Wenn Siemens-Chef Heinrich von Pierer heute durch die Siemensstadt ginge, müßte es ihm die Schamröte ins Gesicht treiben. Der von seinem Unternehmen gegründete Berliner Stadtteil ist ein seltenes Zeugnis von Investitionseifer und Fürsorge gegenüber seiner Belegschaft, wenn auch in der damals üblichen patriarchalen Variante. Heute dagegen stehen große Teile des ehemaligen Werkgeländes leer; in den vergangenen zehn Jahren wurden mehr als 5.000 Arbeitsplätze abgebaut.

In der ersten Hälfte des Jahrhunderts lebte und arbeitete hier der „Siemens-Mensch“, der wegen seines Komforts, seiner verkabelten Wohnung und elektrischen Küche beneidet, aber auch in Gedichten verspottet wurde.

Die Berliner Geschichtswerkstadt hat eine kritische Unternehmensgeschichte zusammengetragen und zu einem „historischen Stadtrundgang“ entwickelt, den sie am Wochenende zum ersten Mal durchführte. Im Rahmen der Protestaktionen gegen das Siemens- Jubiläum zeigt die Geschichtswerkstatt die Geschichte technologischer Erfolge, ihrer Kosten und was es bedeutete, ein „Siemensianer“ zu sein. Aber auch als Zwangsarbeiter ausgebeutet zu werden. „In Siemensstadt wird der gesamte Entwicklungsprozeß eines Weltkonzerns in all seinen Etappen sichtbar“, schwärmt der Kulturhistoriker Walter Scheiffele. Industriegeschichtlich hält er den Stadtteil, an dem das Unternehmen von 1897 bis 1945 seinen Sitz hatte, für „herausragend“.

Bis in die zwanziger Jahre hinein hat der Glaube an den technischen Fortschritt dem Stadtteil seinen architektonischen Stempel aufgedrückt. Das in rotem Klinker erbaute Industriegelände galt als eines der modernsten der damaligen Zeit. Im Laboratorium wurde das erste Elektronenmikroskop entworfen. Hausarchitekt Hans Hertlein baute das erste Fabrikhochhaus in Deutschland. Für die Handwerker und Angestellten des Unternehmens wurden zunächst noch nüchterne Mietskasernen errichtet. Doch später bauten Scharoun, Gropius und Hertlein moderne Wohnzeilen, passend zur Fabrikarchitektur. Diese waren knapp und ohne Ornamentik geschnitten, boten aber den größten Komfort: Zentralheizungen und Einbauküchen.

Doch Scheiffele weist darauf hin, daß die technische Fortschrittlichkeit nicht mit einer politischen einhergegangen ist. Die sozialen Leistungen, von denen die Beschäftigten profitierten, seien einhergegangen mit einem Verbot außerbetrieblicher Gewerkschaften. Seit Mitte der zwanziger Jahre sei die Politik des Unternehmens völkisch ausgerichtet gewesen. Die zu Beginn der dreißiger Jahre für Siemens-Mitarbeiter errichtete dritte Siedlung läßt von einem modernen Impetus kaum noch etwas spüren. In der „Heimat“ konnte sich die Ingenieurs-Familie wieder in die Idylle zurückziehen. „Die Angestellten des modernsten Unternehmens lebten in einer altmodischen und synthetischen Kleinstadt. Das ist unglaublich paradox“, meint Scheiffele.

Im Jahr 1933 nennt Carl Friedrich von Siemens Hitler einen Kämpfer gegen den Sozialismus. Sein Unternehmen hatte die NSDAP zuvor mit Wahlkampfspenden kräftig unterstützt. Siemens konnte zufrieden sein: Zunächst bekam der Konzern die Aufträge für das, was Walter Scheiffele „Befehlsempfänger“ nennt, also den Volksempfänger, Fernschreiber und Telefone. Anschließend Aufträge für die elektronische Ausstattung von Rüstungsprodukten. Schließlich profitierte Siemens vom Einsatz mehrerer zehntausend ZwangsarbeiterInnen. Eine Entschädigung der Zwangsarbeiter lehnt Siemens ab. Statt dessen wird im April im Innenhof des Verwaltungsgebäudes ein kleiner Gedenkstein enthüllt, auf dem mit vorsichtigen Worten Wiedergutmachung geleistet werden soll: „Wir gedenken der vielen Mitmenschen, die in den Jahren des Zweiten Weltkriegs gegen ihren Willen in unserem Unternehmen arbeiten mußten.“