In der ersten Zeit nur Kälte und Dunkelheit

■ Dokumentation von Achmeds Lebenslauf bis zum Beginn seiner Heroinsucht

„Als ich zwei Jahre alt war, ging mein Vater nach Deutschland. Nach zwei Jahren folgten ich und meine Mutter ihm. Wenig später fing meine Mutter an zu arbeiten. Da schickten sie mich wieder zurück zu meiner Oma in die Türkei. Es waren zwei schöne Jahre, meine Oma erfüllte alle meine Wünsche. Die Kontakte zu meinen Eltern bestanden aus Briefen, manchmal aus Fotos oder Schokolade.

Im dritten Sommer kamen sie zum Urlaub in die Türkei und sagten: „Wir nehmen dich wieder mit, du gehst dann in Stuttgart in die Schule!“ Ich wußte nicht recht, ob ich darüber glücklich oder unglücklich sein sollte. In Stuttgart war alles anders. Wenn ich an diese erste Zeit denke, kommen Einsamkeit, Kälte und Dunkelheit in meinen Erinnerungen hoch.

Meine Mutter hat nach wie vor gearbeitet. Nach der Schule mußte ich oft bei unserer Nachbarin auf sie warten. Mit acht bekam ich einen eigenen Schlüssel. Wegen dem Haus in der Türkei hatten meine Eltern noch viele Schulden. Dieses Haus unserer Zukunft war 2.500 Kilometer entfernt, mein Onkel wohnte darin. Hier in Stuttgart saßen wir in einer Zweizimmerwohnung.

In der Schule fühlte ich mich von Beginn an unwohl. Aus Angst, Fehler zu machen, traute ich mich oft nicht zu sprechen. Die ganze Schulzeit war von Sprachproblemen begleitet. Ab der vierten Klasse mußte ich in die Sonderschule. Das war ziemlich weit weg von unserer Wohnung. Schlimm war auch, daß die Nachbarskindern sich über mich lustig machten. Ich würde in eine „Idiotenschule“ gehen, hieß es. Jedesmal, wenn ich mit meinen Eltern darüber reden wollte, kamen sie mit ihren Vorwürfen. Jetzt müßte ich eben selber sehen, daß ich mir vorher überhaupt keine Mühe gegeben habe. Ich schwänzte immer öfter, kaufte Süßigkeiten und las irgendwelche Comics.

Mit zwölf habe ich Stefan und Giovanni kennengelernt. Wir sind oft gemeinsam durch die Stadt gezogen. Auch die ersten Zigaretten haben wir zusammen geraucht. Eine Schachtel Marlboro aus dem Automaten. Das war der Beginn meiner Raucherkarriere. Da ich immer mehr Geld brauchte, fing ich auch mit Klauen an. Mein Vater kriegte das mit. So begann auch die Phase, in der ich viele Schläge von ihm bekam. Meine Freundschaft mit Giovanni und Stefan ging weiter. Gemeinsam haben wir viel „Blödsinn“ gemacht. Als ich 15 wurde – nach der achten Klasse –, bin ich ausgeschult worden. Meine Mutter und ich haben das monatelang vor meinem Vater verschwiegen.

Die einzige Unterhaltung meiner Eltern war, sich türkische Filme anzuschauen. Dagegen habe ich irgendwann Haß entwickelt. Mein Vater zwang mich zum Zuschauen, damit ich die türkische Kultur und Sprache nicht verlerne. Sonst war da wenig, was wir gemeinsam machten. Er wiederholte ständig: „Nächstes oder übernächstes Jahr gehen wir in die Türkei und eröffnen gemeinsam einen Supermarkt. Und du mein Sohn, du wirst an der Kasse sein.“ Mit diesem Traum konnte ich beim besten Willen nichts mehr anfangen, geschweige denn, mich darüber freuen. Sein Traum war mein Alptraum geworden.

Meine Versuche, den Hauptschulabschluß nachzumachen, sind fehlgeschlagen. Ich konnte keine Lehrstelle finden. In der Baufirma, in der mein Vater beschäftigt war, versuchte ich zu jobben. Es ging nur ein paar Tage gut. Durch Giovanni hatte ich Kontakt zu einer Clique, die sich jeden Abend am Rotebühlplatz traf. In der Clique begann ich zu kiffen. Ich wollte damit wohl zeigen, daß ich dazugehöre. Im Laufe der Zeit wurde die Clique mein zweites Zuhause.

Die Konflikte mit meinem Vater haben sich enorm zugespitzt. Er drohte ständig, mich in die Türkei zu schicken. Das laute Schreien und Beschuldigen meines Vaters, das Weinen meiner Mutter – ich konnte es nicht mehr hören. Eines Tages ...“

Ahmet war jahrelang heroinabhängig; jetzt ist er einer von bundesweit rund 20.000 Drogenkranken, die mit Methadon substituieren. Aufgezeichnet von

Nimettin Aksoy