■ Porträt einer unterdrückten Minderheit
: Die ohne Lappen leben

Jetzt denken Sie mal scharf nach: Was ist es, das den Menschen zum Kulturwesen macht? Ist es die Fähigkeit, Salamipizza mit Messer und Gabel zu essen? Der korrekte Gebrauch des Konjunktivs beim Stammtischpalaver, die gewissenhafte Mundhygiene oder das tägliche Wechseln der Unterhose? Weit gefehlt! Es ist einzig und allein: der Besitz einer gültigen Fahrerlaubnis.

Es gibt zahllose Herren, die kein einziges Liebesgedicht aufsagen können und trotzdem gewaltig Schlag bei Frauen haben. Wenn einer Bismarck für den Erfinder des Doppelkorns hält, kommt niemand auf die Idee, ihn in einen Schimpansenkäfig zu sperren. Und manche sind sogar Bundespräsident geworden, obwohl sie nachgewiesenermaßen keiner einzigen Fremdsprache mächtig waren. Ohne Führerschein wäre das anders gewesen.

Wer keine Fahrerlaubnis besitzt, befindet sich auf der nach unten offenen Wertschätzungsrangliste seiner Zeitgenossen nur wenige Plätze vor Frauenhändlern, aber deutlich sogar hinter Musterungsärzten, Gerichtsvollziehern und dem Vater der Knorr-Familie. Der Führerscheinlose mag die Quadratwurzel von 24stelligen Zahlen in Sekundenschnelle im Kopf ausrechnen können oder sich auf Familienfeiern regelmäßig als blitzgescheiter Festredner hervortun – seinen Freunden, Nachbarn und Verwandten gilt er trotzdem als Depp. Wenn einer öffentlich zugibt, daß er ein Auto nicht einmal unfallfrei aus einer Garage hinausfahren kann, dann rücken die Menschen von ihm ab, als habe er soeben gesagt: „Ach, übrigens, ich habe Krätze und offene Tuberkulose. Ein Infektions-Doppelpack, sozusagen.“

Im allgemeinen gehen seine Mitgeschöpfe davon aus, daß er im Suff eine Kindergartenwandertruppe auf dem Zebrastreifen niedergemäht hat oder beim Idiotentest nur knapp an einer Einweisung in die geschlossene Anstalt vorbeigeschrammt ist. Zwar hat er den Vorteil, daß er bei einem abendfüllenden Zug durch die Gemeinde sorglos einen halben Eimer Bier in sich hineinschütten kann, weil er niemals derjenige ist, der fahren muß. Da er jedoch keine Freunde besitzt, nützt ihm das herzlich wenig.

Doch immerhin erweist sich das Leben als außerordentlich spendabel, wenn es darum geht, uns Outcasts mit lustigen Erlebnissen zu versorgen. Neulich war es mal wieder soweit. Ein stadtbekannter Spielautomatensammler bot mir einen alten Flipper zum Kauf an. Ich radelte zu ihm und verliebte mich sofort in die Maschine. Schnell wurden wir handelseinig. „Wenn du mir hilfst, einen anderen Automaten, den ich grad an der Angel habe, hierher zu schaffen“, sprach er, „können wir das gute Stück auch mit dem Wagen meiner Liebsten gleich zu dir befördern.“ Ich nickte eifrig – erbleichte aber umgehend: Denn als er mir den Autoschlüssel herüberreichte, wußte ich, daß uns noch mehr verband als die Leidenschaft, stundenlang eine Stahlkugel durch eine Bumperlandschaft zu schießen.

Auf diese Weise lernen wir Außenseiter und Marginalexistenzen uns kennen. Und wir stellen fest: Wir werden immer mehr. Bald schon werden wir republikweit Selbsthilfegruppen und Vereine gründen. Wir werden dazu berechtigt sein, Spendenquittungen auszustellen. Wir werden Benefizkonzerte mit Scott Walker und Little Feet veranstalten. Und wir werden unverdrossen dafür kämpfen, daß der Artikel 3 des Grundgesetzes geändert wird und nicht mehr länger nur Frauen und Andersgläubige gegen Diskriminierung geschützt sind, sondern endlich auch wir, die Führerscheinlosen. Joachim Schulz