Helmut Kohl hat die CDU voll im Griff. Immer noch

Die CDU ist katholisch, konservativ und pragmatisch. Was sie zusammenhält, ist ihr Wille zur Macht. Der Göttinger Politikwissenschaftler Peter Lösche über den Zustand der Partei, über ihren angeschlagenen Kanzler, seinen Kronprinzen Wolfgang Schäuble und über junge Wilde, die weder jung noch wild sind. Mit ihm sprach  ■ Jens König

taz: Halten Sie es für möglich, daß die CDU anderthalb Jahre vor den Bundestagswahlen ihren eigenen Parteivorsitzenden und Bundeskanzler abserviert?

Peter Lösche: Sie sprechen auf das Ludwig-Erhard-Syndrom an. Die CDU kann sich gar nicht gegen Kohl entscheiden, weil sie von ihrer Struktur her dazu nicht in der Lage ist.

Warum?

Kohl hat die CDU, soweit sie überhaupt noch als Parteiorganisation existiert, völlig im Griff, die Bundestagsfraktion eingeschlossen. Bei der Ablösung von Ludwig Erhard vor 30 Jahren war das anders. Da führte die CDU als Partei ein Eigenleben, und Erhard war als Parteiführer völlig inkompetent.

Scheut die CDU das Risiko?

Ja, die CDU ist mutlos. Sie ist in einem völlig desolaten Zustand. Sie ist als Partei kaum existent und kann folglich auch nicht als gesellschaftlicher Akteur in Erscheinung treten. Seit Jahren wird die CDU direkt aus dem Kanzleramt dirigiert.

Aber im Moment ist Kohl doch eher auf Tauchstation. Aus vielen Konflikten hält er sich heraus.

Die CDU ist doch auch deswegen so desolat, weil Kohl unheimlich überschätzt wird. Früher war es die Stärke von Kohl, unterschätzt zu werden. Heute ist es seine Schwäche, überschätzt zu werden. Die Partei wagt doch nicht einmal, auch nur den kleinsten Konflikt offen gegen ihn auszutragen. Als Christian Wulff Theo Waigel angegriffen hat, da galt das gleich als große Tabuverletzung.

Vor wenigen Monaten galt die CDU noch als toter Kanzlerwahlverein. Ist sie, daran gemessen, heute nicht geradezu eine lebendige, diskussionsfreudige Partei?

Zu einer lebendigen Partei gehört ein bißchen mehr als die Diskussion der Steuer- und Rentenreform. Dazu gehören innerparteiliche Dispute, die sich auch in verschiedenen Fraktionen manifestieren, und dazu gehört die Profilierung inhaltlicher Alternativen. Was es in der CDU gar nicht gibt, ist der Versuch, konzeptionell Politik zu machen. Da wird die Rentenreform neben der Steuerreform diskutiert, dann kommt die Gesundheitsreform hinzu, plötzlich wird über den Subventionsabbau im Steinkohlebergbau entschieden, und das alles hängt irgendwie mit dem Euro zusammen – inhaltlich miteinander verbunden wird da gar nichts. Der Kanzler müßte zu all diesen einzelnen Problemen begründet Urteile fällen und mit Hilfe seiner Berater konzeptionell eine Politik entwickeln können, die in sich geschlossen ist. Dazu jedoch ist Kohl nicht in der Lage.

Aber bei fast jedem Streit in der Union – egal ob Rente, Gesundheit oder Steuern – geht es im Moment immer gleich ums „System“. Alles läuft auf die Frage hinaus, ob sich die Bundesrepublik von ihrem sozialen Modell verabschieden muß.

Diese grundsätzliche Diskussion ist aber nicht das Verdienst der CDU. Die Tradition des deutschen Sozialstaates ist durch die Globalisierung prinzipiell in Frage gestellt, da stellt sich die Frage nach dem „System“ automatisch. Und sie wird durch das Verhalten der FDP zugespitzt. Die Liberalen treiben mit ihrem wirtschaftsliberalen Kurs die CDU vor sich her. Westerwelle hat ja von seiner Warte aus nicht ganz unrecht, wenn er sagt, daß im Bundestag außer der FDP nur sozialdemokratischen Parteien sitzen.

Man hat den Eindruck, die CDU merkt erst jetzt, daß das Soziale zum gesellschaftlichen Konsens der alten Bundesrepublik gehört.

Das verhält sich viel profaner. Die CDU weiß, wenn sie Wahlen gewinnen will, dann muß sie auf ihren „linken“ Flügel, auf die Sozialausschüsse Rücksicht nehmen. Die CDU ist auch die Partei der katholischen Soziallehre, des katholischen Friedens, des Subsidiaritätsprinzips. Wenn sich die Partei von dieser Traditionslinie löst, dann verliert sie fünf Prozent ihrer Stimmen, wenn nicht sogar noch mehr.

Aber Blüm gilt in dieser Partei als Auslaufmodell. Wo er von Solidarität spricht, reden andere, wie Schäuble, nur noch von den kollektiven Zwangssicherungssystemen dieser Gesellschaft.

Weil Blüm als Symbolfigur des alten, überlebten sozialen Systems gesehen wird. Wenn sich der Arbeits- und Sozialminister hinstellt und sagt, die Renten sind sicher, später aber den Offenbarungseid leisten muß, dann hat er natürlich einen schlechten Stand. Blüm wird nur noch aus wahltaktischen Gründen gehalten, auch vom Kanzler.

Streitet sich die CDU, wie manche behaupten, stellvertretend für die Gesellschaft über die sozialen Grundfragen?

Alles andere, nur nicht das. Die CDU ist geradezu Ausdruck für die vielen nicht gelösten Fragen. Parteien, wenn sie halbwegs funktionieren, tragen Konflikte dieser Gesellschaft nicht stellvertretend für diese aus, sondern als Teil dieser Gesellschaft. Die zunehmende Verselbständigung der Parteien halte ich für einen Mythos.

Dennoch entsteht irgendwie der Eindruck, die CDU wird moderner. Selbst Joschka Fischer sagt, er könne mit vielen Christdemokraten ganz gut zusammenarbeiten. Und im Gegenzug behauptet mittlerweile jeder, die SPD sei strukturkonservativ.

Der Druck von außen ist sehr groß. Die Nichtfinanzierbarkeit vieler Programme, aus welchen Gründen auch immer, bringt die Regierungsparteien, insbesondere die CDU, natürlich mehr unter Druck als die Opposition. Dadurch entsteht dann der Anschein von Modernisierung. Der Gewerkschaftsflügel der CDU ist jedoch nicht weniger strukturkonservativ als der Arbeitnehmerflügel der SPD. Und bei den Sozialdemokraten gibt es genauso viele Modernisierer wie in der CDU.

Die CDU ist eine sehr heterogene Partei. Welche Flügel konkurrieren miteinander?

Es gibt heute keine Flügel in der CDU, die sich klar voneinander unterscheiden und bei denen diese Unterschiede etwa inhaltlich begründet wären. Man kann eher von verschiedenen Tendenzen sprechen: Wirtschaftsliberale stehen gegen Sozialstaatler, Modernisierer gegen Wertkonservative.

Aber die Partei vereint sehr unterschiedliche soziale Interessen.

Gerade das macht die CDU so bunt. Sie muß den Spagat hinbekommen zwischen dem kleinbürgerlichen, auf Rente gesetzten Bergmann im Kohlenpott, der Tauben züchtet, und dem dynamischen Yuppie, der nur Karriere machen will. Zunehmende Bedeutung in der Partei bekommen die landsmannschaftlichen, also die regionalen Interessengruppen, die Vereinigungen, beispielsweise die Gruppe der christdemokratischen Frauen, auch der Ost-West-Konflikt. Das alles macht die CDU schillernder als früher und kann nicht mehr einfach unter links oder rechts subsumiert werden. Deswegen ist auch völlig offen, in welche Richtung sich die CDU entwickelt.

Was verbindet die Partei?

Ihr Wille zur Macht. Der hat die CDU mehr als jede andere Partei in Deutschland geprägt. Daraus erwächst eine gemeinsame Attitüde: Die CDU ist katholisch, konservativ und sehr pragmatisch; sie hat, im Gegensatz zu sogenannten Reformparteien, ein sehr unidealistisches Weltbild und wird dadurch vielleicht weniger von Neurosen erfaßt.

Hat die CDU eine Integrationsfigur? Ist es Helmut Kohl noch?

Ich denke schon. Seine Kompetenz, mit Organisationen umzugehen und sie nach seinem Bild zu formen, ist ungebrochen. Helmut Kohl ist zwar kein charismatischer Führer, aber durch die Medien ist er dazu stilisiert worden. Dadurch und durch den Mythos Kanzler der Einheit integriert er seine Partei nach wie vor.

Aber durch Kohls Schwäche in den letzten Wochen ist auch seine Partei verunsichert worden. Selbst seine Anhänger geben zu, daß es das System Kohl nicht mehr gibt.

Das ist richtig, aber die CDU hat in der jetzigen Situation keine wirkliche Alternative zu Kohl. Und, darauf hat mein Kollege Joachim Raschke letztens verwiesen, ihr fehlt der Herbert Wehner in ihren Reihen, der den Mut hat, den Kanzler nach Hause zu schicken. Außerdem scheint es mir für eine Große Koalition vor den Wahlen 1998 zu spät zu sein. Der Zug ist abgefahren. Ich gehe davon aus, daß Helmut Kohl seine Entscheidung, 1998 erneut zu kandidieren, bald bekanntgeben wird.

Mag sein, daß er ein Kandidat ohne Alternative ist – ist Kohl aber auch der beste Kandidat für die Union? Er kriegt irgendwie nicht mehr so richtig Anschluß an die Welt da draußen.

Kohl ist in der Tat jemand, der nicht mehr in diese Zeit zu passen scheint. Seine besonderen Kompetenzen in der Organisation und beim Führen von Wahlkämpfen wirken fast altmodisch. Die modernen Parteiführer müssen heute vor allem bei der fachlichen Diskussion der komplexen politischen Probleme überzeugen. Das kann Kohl nicht. Er hat so gut wie keine inhaltlichen Kompetenzen in zentralen Fragen der Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftspolitik. Die CDU läuft damit Gefahr, die Wirtschaftskompetenz, die ihr zugeschrieben wird, zu verlieren.

Holt den Kanzler der Einheit der Systembruch von 1989 erst jetzt ein? Ist er in dieser Beziehung vielleicht sogar das letzte Symbol der alten Bundesrepublik?

Kohl als eine Art Symbol der Vor-Globalisierungs-Ära? Da ist etwas dran. Kohls Ära wäre ja auch fast schon 1989 zu Ende gegangen. Damals lag er in den Umfragen weit hinter Lafontaine und wurde erst durch die deutsche Einheit gerettet. So gesehen gehört er in die Bonner und nicht in die Berliner Republik.

Wenn Kohl nicht mehr in diese Zeit paßt, wer führt dann die CDU ins nächste Jahrtausend? Wolfgang Schäuble?

Schäuble hat die inhaltliche Kompetenz, die Kohl fehlt. Und er ist der geborene Kanzlerkandidat nach Kohl. Aber er kann die Partei nicht integrieren. Dazu ist er zu intellektuell und aufgrund seiner Biographie zu verbittert. Ohne Frage würde unter Schäuble der persönliche Umgang in der CDU lockerer werden, aber gleichzeitig würde er die Partei auch polarisieren. Er hat in der letzten Zeit im Streit zwischen Neoliberalen und Sozialstaatlern, bleiben wir mal bei diesen etwas unscharfen Begriffen, fast immer auf der Seite der Neoliberalen gestanden. Aber die personelle Entwicklung hängt entscheidend von den Wahlen 1998 ab. Verliert Kohl, ist er weg vom Fenster; im Abservieren von Verlierern ist die CDU sehr rigide. Und dann wäre der Weg für Schäuble frei. Aber unterschätzen Sie nicht den Wahlkämpfer Helmut Kohl.

Hat die CDU mit Leuten wie Christian Wulff, Ole van Beust, Roland Koch, mit den sogenannten jungen Wilden, politischen Nachwuchs, der die Partei in Zukunft prägen wird?

Die „jungen Wilden“ halte ich für ein ausgesprochenes Medienprodukt. Die sind weder jung noch wild. Die sind in einem Alter – zwischen Ende dreißig und Ende vierzig –, in dem Friedrich Ebert bereits Reichspräsident und Willy Brandt Regierender Bürgermeister war. Sie vereint, daß sie sich aus gemeinsamen Tagen bei der Jungen Union kennen, als Oppositionsführer in ihren Ländern in den Startlöchern sitzen, Juristen sind und eher wirtschaftsliberale Positionen vertreten. Ansonsten ist es ein pragmatischer Haufen von Politikern mittleren Alters. Sie versuchen, Machtpositionen zu erringen, von denen aus sie weiter Karriere machen können. Dafür machen sie ab und zu den Mund auf.

Immerhin hat Christian Wulff es als einer der ersten gewagt, Kohl zu kritisieren.

Der Wulff ist intelligent. Im Englischen würde man sagen: „He is sophisticated.“ Der ist ein Schlitzohr und weiß, was er politisch will. Ein Heiner Geißler ist den Kanzler aber ganz anders angegangen.

Gemeinsam ist diesen Politikern, daß sie von der sozialliberalen Ära geprägt worden sind. Hat das Auswirkungen auf ihr Politikverständnis? Verbinden sie mit ihrer Politik eine Art Projekt?

Wenn das so sein sollte, dann haben sie ihr Projekt bisher ganz gut verbergen können. Natürlich sind sie, wie jede Generation, in einer bestimmten Art und Weise gemeinsam sozialisiert worden. Mehr aber auch nicht.

Hat die CDU also auch ein strategisches Problem, nur ein etwas kleineres als die SPD?

In gewisser Weise schon. Aber die Christdemokraten haben den Vorteil, daß die Wähler von ihnen keine großen Projekte erwarten; die CDU ist keine Reformpartei. Sie muß sich nur erfolgreich durchwursteln. Erst wenn sie das nicht mehr kann, wird es für sie gefährlich. Dann droht, daß sie Wähler am rechten Rand verliert. Davon ist sie im Moment nicht mehr weit entfernt.