Gleichgültigkeit gegenüber den NS-Opfern

Die Behandlung rechtsstaatswidriger NS-Strafurteile nach 1945: Noch immer sind mehrere hunderttausend Unrechtsurteile wirksam. Unter dieses finstere Kapitel der Strafjustiz muß ein gesetzgeberischer Schlußstrich gezogen werden  ■ Von Ralf Vogl

Der Strafgefangene S. hat sich freiwillig zur Beseitigung von Blindgängern und Bomben gemeldet. Im Juli 1944 arbeitet er in Kiel in einem bombengeschädigten Haus. Aus den Räumen eines Blumengeschäftes nimmt er diverse Sachen an sich: 1/8 Pfund Speck, eine Rolle Bindfaden, einen Radiergummi, einige Tinten- und Bleistifte. Aus der verschlossenen Wohnung im 1. Stock, in die er durch ein durch den Bombenangriff zerstörtes Fenster einsteigt, holt er eine Tafel Schokolade und zwei Kisten mit etwa 60 Zigarren. Weiterhin findet er unter dem Schutt eines bombenzerstörten Hauses eine Geldbörse mit 86 Reichsmark, die er mit anderen eingesetzten Häftlingen teilt.

Am 3. November 1944 verurteilt das Sondergericht Kiel S. wegen dieser Taten als „gefährlichen Gewohnheitsverbrecher“ wegen Rückfalldiebstahls und wegen Fundunterschlagung zum Tode und erkennt ihm die bürgerlichen Ehrenrechte auf Lebenszeit ab. Die Todesstrafe wird am 5. Dezember 1944 in Hamburg vollstreckt. Solche und ähnliche Urteile, die jeder Gerechtigkeit Hohn sprechen, gab es im Nationalsozialismus zu Tausenden. Das Strafrecht wurde durch die NS-Machthaber zur Bekämpfung tatsächlicher oder vermeintlicher Gegner und zur Durchsetzung der NS- Ideologie instrumentalisiert. Die Angeklagten wurden entrechtet und zu einem bloßen Objekt des Strafverfahrens herabgewürdigt. Die Strafrechtspflege im Nationalsozialismus war oft, wenn auch nicht ausschließlich, eklatant rechtsstaatswidrig. Diese Fakten sind heute hinlänglich bekannt. Daß die Täter, gerade auch diejenigen in der NS-Justiz, also Richter und Staatsanwälte, von der deutschen Nachkriegsjustiz nur unzureichend zur Verantwortung gezogen wurden, ist ebenfalls – vollkommen zu Recht – oft beklagt worden. Darüber ist allerdings die Auseinandersetzung mit den Opfern der NS-Strafjustiz, also mit den Verurteilten beziehungsweise deren Hinterbliebenen, zu sehr vernachlässigt worden.

Noch vor Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR wurden in den 40er Jahren auf Veranlassung der jeweiligen alliierten Besatzungsmacht Gesetze erlassen, die die Aufhebung bestimmter NS-Strafurteile beziehungsweise die Herabsetzung unverhältnismäßig hoher Strafen ermöglichten. Diese Bestimmungen gelten meist bis heute fort, allerdings sind sie nur innerhalb der einzelnen (ehemaligen) Besatzungszonen Deutschlands einheitlich. Obwohl die unterschiedlichen Regelungen so zu einer heillosen Rechtszersplitterung in der Bundesrepublik Deutschland führten, hielt es der bundesdeutsche Gesetzgeber, trotz wiederholter Initiativen, bis heute nicht für erforderlich, ein einheitliches Gesetz zur Beseitigung von NS-Unrechtsurteilen zu schaffen. Nur für die Länder der früheren britischen Besatzungszone wurde 1990 ein ungewöhnliches „partielles“ (nur in diesen Bundesländern gültiges) Bundesgesetz erlassen, da in den 60er Jahren das strafrechtliche Wiedergutmachungsgesetz dieser Länder „versehentlich“ außer Kraft gesetzt wurde. Die Sowjetregierung setzte dagegen 1954, als Zeichen der wiedererstarkten Souveränität der DDR, alle Befehle der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) außer Kraft, darunter auch den Befehl, der die Aufhebung von NS-Urteilen ermöglichte. Da in der DDR selbst keine entsprechende Regelung erlassen wurde, können NS- Unrechtsurteile seitdem in der DDR und jetzt in den fünf neuen Bundesländern nicht mehr beseitigt werden. Die Tatsache, daß die Beseitigung von NS-Strafunrechtsurteilen bis heute nicht erledigt ist, findet auch ihre Ursache in den verstreuten und – gerade für die Betroffenen – weithin unbekannten Rechtsgrundlagen.

Trotz Unterschiede im einzelnen finden sich in den Rechtsvorschriften zur Wiedergutmachung von NS-Unrecht in der Strafrechtspflege in sämtlichen Besatzungszonen und in Berlin, neben vereinzelten Sonderregelungen, beachtliche Gemeinsamkeiten, insbesondere in den Aufhebungsgründen. In erster Linie sollten die Verurteilungen der politischen Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime, die ihr Leben zur Bekämpfung und Schwächung des Regimes eingesetzt hatten und die deswegen bestraft wurden, aufgehoben werden. Darüber war man sich in sämtlichen Besatzungszonen einig. Genannt seien in diesem Zusammenhang die Todesurteile gegen die Geschwister Scholl, gegen den Pastor Bonhoeffer oder gegen den Obersten Graf von Stauffenberg. Die Rehabilitierung solcher Widerstandskämpfer lag den Wiedergutmachungsgesetzgebern besonders am Herzen. Es mußte aber in jedem Einzelfall festgestellt werden, daß die Verurteilung wegen Widerstandshandlungen des Betreffenden erfolgt war. Bloß defätistisches oder nonkonformistisches Verhalten (Meckern, Witze erzählen usw.) genügte hier nicht.

Daneben wurden allgemein noch solche NS-Urteile aufgehoben, bei denen das bestrafte Verhalten ausschließlich nach NS- Auffassung strafbar war, die Verurteilung also allein auf typisch gesetzesförmigem NS-Unrecht beruhte. Dazu zählten etwa Bestrafungen ausschließlich wegen Verstößen gegen das Blutschutzgesetz, das Rundfunkgesetz oder das Heimtückegesetz. Da der Betroffene aber wegen eines Verhaltens oftmals zugleich auch aufgrund allgemeiner, heute noch gültiger Straftatbestände uerurteilt worden war, war der Anwendungsbereich dieses Aufhebungsgrundes nicht so groß, wie es auf den ersten Blick erscheint. So wurde der Strafgefangenen S. vom Sondergericht Kiel wegen Verstoßes gegen die nationalsozialistische Volksschädlingsverordnung verurteilt. Ein typischen NS-Unrechtsgesetz, das die Verhängung der Todesstrafe ermöglichte, sofern bei Begehung einer beliebigen Tat der Kriegszustand in irgendeiner Weise ausgenutzt worden war; daneben erfolgte die Verurteilung des Strafgefangenen S. aber auch wegen Diebstahls und Unterschlagung. Die Folge: Seine Verurteilung kann aufgrund der strafrechtlichen Wiedergutmachungsgesetze nicht aufgehoben werden, da das Verhalten des S. nicht nur nach nationalsozialistischer, sondern auch nach heutiger Auffassung strafbar ist (nämlich als Diebstahl und Unterschlagung), wenn auch heute keine so drakonische und unverhältnismäßig hohe Strafe verhängt werden könnte. Die Verhängung einer unverhältnismäßigen Strafe allein ist genauso wenig ein Grund zur Aufhebung des gesamten Urteils wie ein Überwiegen des Unrechtscharakters des Urteils, sondern konnte allenfalls die Reduzierung des Strafmaßes oder die Teilaufhebung ermöglichen.

Teilweise sehen die Wiedergutmachungsbestimmungen die Aufhebung des NS-Urteils kraft Gesetzes vor, teilweise ist nach Antragstellung durch den Verurteilten, seine Hinterbliebenen oder die Staatsanwaltschaft ein Aufhebungsverfahren durchzuführen. Der Kreis der kraft Gesetzes aufgehobenen NS-Urteile ist wegen der engen Voraussetzungen gering. Auch Aufhebungsverfahren sind in großer Zahl nicht durchgeführt worden. Lediglich in der Sowjetischen Besatzungszone bemühte sich die Justizverwaltung auf Druck der SMAD, möglichst viele Aufhebungsverfahren durchzuführen mit der Folge, daß bis September 1949 in der Sowjetischen Zone NS-Urteile gegen zirka 2.000 Personen aufgehoben wurden. Im Verhältnis zu dem massenhaften, in die Hunderttausende gehenden NS- Unrecht in der Strafrechtspflege wurde insgesamt nur ein geringer Bruchteil der NS-Urteile beseitigt.

Über der Absicht, vor allem das Unrecht gegenüber den politischen Widerstandskämpfern wiedergutzumachen, ging zu leicht der Blick auf das alltägliche NS-Unrecht vor den Strafgerichten verloren. Insbesondere die rechtsstaatswidrige Gestaltung des Strafverfahrens im Nationalsozialismus wurde als Grund zur Beseitigung des Urteils nicht anerkannt. Auch Urteile der Wehrmachtsgerichte gegen Deserteure oder Wehrdienstverweigerer können auf der Grundlage der vorhandenen Gesetze regelmäßig nicht aufgehoben werden, da sie nicht als Widerstandskämpfer angesehen werden und sie sich nicht nur nach NS- Auffassung strafbar gemacht haben. Weiterhin zeigte sich, daß die Grundkonzeptionen der strafrechtlichen Widergutmachungsgesetze mit dem Anknüpfen an der Motivation des im Nationalsozialismus Verurteilten (die politische Widerstandstat) fragwürdig sind, da ein Urteil schon dann Unrecht darstellt, wenn es selbst rechtsstaatswidrig ist, ohne daß es auf Gesinnung oder Schuld des Verurteilten maßgeblich ankäme. Rechtsstaatswidrige Urteile, also insbesondere Urteile, die gegen elementare Menschenrechte verstießen (Bestrafung von bloßen Meinungsäußerungen, Ungleichbehandlung aus Gründen der Rasse usw.), die rückwirkend oder „analog“ bestraften oder unverhältnismäßig hohe Strafen (insbesondere Todesstrafen) verhängten, verdienen es nicht, aufrechterhalten zu werden; sie sind vielmehr in jedem Fall aufzuheben, auch wenn sich die Verurteilten daneben aus heutiger Sicht strafbar gemacht hatten.

Die Wiedergutmachungsgesetze waren hier sehr restriktiv, so daß nur ein viel zu kleiner Kreis von NS-Unrechtsurteilen aufgehoben werden kann. Bereits in den 40er Jahren wurde erkannt, daß die Regelungen nicht bis ins letzte durchdacht waren. Trotzdem hat der Gesetzgeber bis heute, trotz dieser Kenntnis, nicht nachträglich korrigierend eingegriffen. Dies ist um so unverständlicher, als 1992 mit dem Gesetz zur Rehabilitierung von Personen, die durch die DDR-Strafjustiz rechtsstaatswidrig verurteilt wurden, eine vorbildliche Regelung geschaffen wurde, die die Fehler der strafrechtlichen NS-Wiedergutmachungsgesetze vermeidet.

Auf der Grundlage dieses Gesetzes wurden einige zehntausend DDR-Unrechtsurteile aufgehoben. In der Untätigkeit hinsichtlich der NS-Verurteilten zeigt sich hingegen ein weitverbreitetes Desinteresse des Gesetzgebers an der Regelung der strafrechtlichen Wiedergutmachung von NS-Unrecht.

Unkenntnis und allgemein gesellschaftliches Desinteresse hatten zur Folge, daß nur vergleichsweise wenige NS-Unrechtsurteile nach 1945 aufgehoben wurden. Solange der Gesetzgeber keine abschließende Regelung erläßt, mit der genauer zu bestimmende NS- Unrechtsurteile (etwa alle Todesurteile) unmittelbar kraft Gesetz aufgehoben werden, werden immer wieder durch Zufall eklatant rechtsstaatswidrige und heute noch gültige Urteile der NS-Strafjustiz zum Vorschein kommen. Es wird geschätzt, daß noch mehrere hunderttausend NS-Unrechtsurteile wirksam sind. Nur durch einen gesetzgeberischen Schlußstrich unter dieses finstere Kapitel der Strafjustiz kann eine endgültige Lösung geschaffen werden.

Das Oberlandesgericht Schleswig lehnte übrigens 1995 die Aufhebung des Todesurteils gegen den Strafgefangenen S. rechtskräftig ab. S. habe auch einen Diebstahl und eine Unterschlagung begangen, und sein Verhalten sei deshalb nicht nur nach nationalsozialistischer Auffassung strafbar gewesen.

Der Autor Ralf Vogl (30) ist Richter am Landgericht Berlin