Nächtliche Flucht ins Lager für 300 Mark

Illegale Immigranten aus Albanien und anderen Ländern, die schon länger in Italien leben, schleichen bei Dunkelheit in neue Auffanglager. Sie hoffen auf Zuwendungen und Aufenthaltsgenehmigungen  ■ Aus Brindisi Werner Raith

Die Entfernung zur imaginären „Demarkationslinie“ gibt Carlo Fabbri geradezu wie ein Bataillonskommandant an: „Noch einen Kilometer... Noch neunhundert Meter, psst, leise, von jetzt ab kein Wort mehr, noch achthundert Meter. Halt. Alles ducken.“ Gehorsam kauern wir uns nieder, obwohl bei der Dunkelheit wohl kaum ein Unterschied zwischen stehenden und hockenden Menschen auszumachen ist. Aber vielleicht will Carlo die Dramatik seiner gutbezahlten Aktion einfach erhöhen. „Dort vorne rechts, da ist der Eingang, da gehen wir natürlich nicht hin. Dann kommt ein Gebäudekomplex, da gehen wir auch nicht hin, da ist die Wachstube. Dahinter – das sieht man von hier nicht – ist ein langes Stück Zaun, aber da geht's auch nicht, da haben sie Hunde postiert. Wir müssen ganz außen herum, an einer bestimmten Stelle erwartet uns ein Freund, der kennt einen heimlichen Zugang.“ Dort vorne, im hermetisch von der Polizei abgesperrten Bezirk, ist für die Gruppe von gut zwei Dutzend Albanern und zehn Menschen anderer Nationalitäten wohl so eine Art Paradies.

Das ist nicht leicht nachzuvollziehen. „Drinnen“, im neu errichteten Auffanglager für albanische Flüchtlinge, sinnen die Menschen darüber nach, wie sie aus dem sorgsamen Gewahrsam ausbrechen können, um sich dann in Italien als clandestini, als heimliche Immigranten, durchzuschlagen, anstatt in ihre Heimat zurückgeschickt zu werden. Doch „draußen“ warten unzählige Menschen, die dieses Leben schon durchgemacht haben – und die nun darauf hoffen, angesichts der aktuellen Situation in die neuen Lager hineinzukommen und die erwarteten milden Gaben aus Spenderhand oder gar eine längerfristige offizielle Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Carlo Fabbri kassiert für die Aktion „Hinein ins Lager“ pro Kopf an die dreihundert Mark – Geld, das die meisten nur in monatelanger Arbeit auf Feldern, in Steinbrüchen oder als Billigprostituierte aufbringen konnten.

Vorsichtig pirschen wir uns weiter, einige Male über steinige Gräben, einmal müssen wir auch durchs Wasser waten, weil gerade mehrere Autos mit Blaulicht anrücken – Ambulanzen, wie sich herausstellt, aber „man weiß ja nie“, sagt Carlo. Biljana, eine Frau von etwa dreißig Jahren, stöhnt: Sie hat einen Schuh verloren und blutet nun am Fuß, auch die Kälte schmerzt. Wir umwickeln ihren Fuß mit einem zerrissenen Unterhemd, ein Junge macht sich auf den Weg, vielleicht findet er noch einen geöffneten Laden, Schuhgröße 37, ruft die Frau ihm leise hinterher. Carlo ärgert sich: „Noch ein paar solcher Verspätungen, und wir können umkehren.“ Entsetzen, ein junger Mann ballt die Faust: „Dann will ich aber mein Geld wieder.“ Täuscht der Eindruck, oder spielt da ein leichtes überlegenes Lächeln auf dem Gesicht Carlos? „Sicher“, sagt er, „sicher bekommst du es zurück. Aber erst morgen, ich trag' das doch nicht mit mir herum.“

Dann sehen wir den Zaun und die Hunde. Die haben ihr Augenmerk allerdings nicht auf die Umgebung gerichtet, sondern stehen bei Fuß ihrer Führer und gucken mißtrauisch aufs Camp – „um Himmels willen, und da sollen wir rein?“ fragt Dragan, ein fünfzigjähriger Uraltimmigrant, den die Behörden in den letzten sechs Jahren schon dreimal erwischt und ausgewiesen haben und der schon viele italienische Lager kennengelernt hat: „Damals, im Stadion von Bari, als sie 15.000 von uns direkt vom Schiff dorthingetrieben haben, da war's weniger eng.“ Tatsächlich zeigt der Blick in die Halle, in der die Menschen stehen, ziemlich dichtes Gedränge, auch im Freien lagern viele vor kleinen Feuern: eine ehemalige Fabrik wohl, die mit einfachen Schaumgummiunterlagen ausgestattet wurde.

Carlo schüttelt den Kopf. „Ihr Idioten. Gerade weil es so viele sind, werdet ihr nicht auffallen.“ Dragan hat trotzdem seine Zweifel: „Aber die da drin, die sind doch alle registriert. Wie sollen wir denen erklären, daß wir nicht registriert sind?“ Carlo lächelt milde: „Das hab' ich euch doch schon dreimal gesagt: Nachts hauen mindestens so viele von drinnen ab wie hineinwollen. Da drin sind Leute von uns, die wissen, wie die Leute heißen, die da ausgerückt sind, die haben die Namen, und die geben sie dann euch.“ Dragans Blick wird noch entsetzter: „Aber dann muß ich doch unter falschem Namen hier weiterleben?“ Carlo wird unwirsch: „Also was willste, rein oder nicht rein? Kannst auch gleich zurückbleiben, alter Penner.“

Dragan bleibt ein paar Schritte zurück, dann humpelt er nach.

Doch der Stachel bleibt. Stockend und in kaum verständlichem Italienisch murrt ein anderer Mann, man habe ihm doch vorher versprochen, sein Status werde nun legalisiert... „Also, du hältst jetzt gleich einmal deinen Mund“, fährt ihn Carlo, zunehmend nervöser, an: „Dich nehme ich sowieso nur aus Nächstenliebe mit. Wir wissen alle genau, daß du kein Albaner bist.“

Der Mann schweigt, einige Mitglieder der Gruppe bedeuten ihm, Ruhe zu geben. Tatsächlich waren beim Anmarsch nicht wenige Stimmen zu vernehmen, die eindeutig nicht albanisch sprachen: „Ein paar Russen sind dabei, sogar ein paar Tunesier“, flüstert Biljana, die mit dem einen Schuh: „Die trau'n sich was!“

Gut neunhundert Menschen sind in dem Camp bisher aufgenommen worden, hatten die Nachmittagsnachrichten verkündet, nun sei alles überbelegt, niemand komme mehr rein – eine ziemliche Lüge: Ständig karren Busse weitere Ladungen Frauen und Kinder an, allerdings nur wenige Männer. Die Durchsuchungen, so viel wird auch von unserem Versteck aus deutlich, sind ziemlich genau: Leibesvisitation, Ausleeren der mitgebrachten Plastiktüten, Kopftücher müssen abgenommen werden, Babys werden von Rotkreuzschwestern abgetastet: „Die haben Angst, daß jemand Waffen mitbringt“, sagt Carlo, „bei dieser Enge kann schon mal eine Schlägerei losgehen, und viele haben sich in Albanien mit Schießzeug versorgt.“

Wir tappen weiter. Carlo erklärt flüsternd die Strategie: „Dort vorne ist die Stelle, wo mein Freund ankommen wird. Dann muß alles ganz schnell gehen. Wer trödelt, bleibt draußen, wir haben nur fünf oder sechs Minuten, dann müßt ihr im Gebäude sein.“ Die „Stelle“ erweist sich als zusammengebrochenes Wartehäuschen für einen Bus-Stop, gerade drei Meter lang, natürlich passen wir nicht alle hinein, doch auf der Straße darf auch niemand bleiben. Carlo beschließt, mit einigen seiner Kunden weiter nach unten zu gehen und sie dort zu „parken“. Angst breitet sich aus, ob man dann nicht „vergessen“ wird, nur schwer entschließen sich zehn oder zwölf Menschen mitzugehen. Die Dunkelheit verschluckt sie, einen Augenblick noch sind sie im Scheinwerferlicht eines fernen Autos erkennbar.

Zehn Minuten, eine Viertelstunde, eine halbe: Nichts rührt sich. Es muß inzwischen gegen Mitternacht sein, ein kalter Wind läßt alle frösteln. Malko, der Junge, der zum Schuhekaufen los ist, steht plötzlich wie aus dem Boden gewachsen da – er hat tatsächlich ein paar Schuhe aufgetrieben, woher, sagt er nicht. „Nimm sie, in Gottes Namen“, flüstert er. Die Frau zieht sie an: zwei Nummern zu groß, aber gefüttert, „besser als meine alten“. Noch immer nichts zu sehen von Carlo. „Ich hau' ab“, sagt der Mann, den sie Tunisino nennen, „das ist eine Falle. Scheiß auf das Geld.“ Mißtrauisch sichert er nach allen Seiten, dann verschwindet er.

Zu früh: Carlo kommt tatsächlich wieder, mit einem älteren Mann, der eine Uniform trägt, nicht Carabiniere oder Polizist, der aber immerhin offiziell aussieht. „Wir gehen da hinten an dem alten Magazin vorbei. Ich bin da drin, und ihr geht in Abständen von fünf Metern, einer nach dem anderen, ich hole euch alle rein.“ Dann ordnet er noch eine Visitation an: Tascheninhalt ausleeren, Plastikbeutel öffnen. „Bist du wahnsinnig“, herrscht er eine Frau an, „das ist ein alter Busfahrschein – wenn die den finden, wissen sie doch, daß du schon länger hier bist, und schieben dich sofort ab. Heute morgen haben sie mehr als dreißig Leute festgenommen, weil die alte Lottoscheine oder Zeitungsausschnitte dabeihatten, Belege, daß sie nicht mit dieser neuen Flüchtlingswelle gekommen sind.“ Nach zehn Minuten ist ein ansehnlicher Stapel möglicher „Beweismittel“ in den Abfallkorb gewandert. Der Mann marschiert mit den zitternden Menschen los.

Und er holt sie tatsächlich ins Camp. Gut zehn Minuten später sprinten oder humpeln sie – für uns, die es wissen, auch von außen erkennbar – über den dunklen Teil des Geländes Richtung Fabrikhalle, dann verschluckt sie die Menge der Menschen. Haben sie es geschafft? Carlo hebt die Schultern: „Jetzt müssen sie selbst zusehen, wie es weitergeht. Ich habe meine Arbeit getan.“

Nach einer Viertelstunde gesellt sich der Mann mit der Uniform noch einmal zu uns, jetzt trägt er allerdings eine normale Jacke. Er zieht an einer dicken Zigarre. „Morgen“, sagt er gleichmütig, „morgen werden sie sie wahrscheinlich wieder aussortieren. Die fotografieren jetzt jeden, und wer sein Foto nicht herzeigen kann, fliegt raus, kommt sofort in Abschiebehaft.“ Carlo fragt nach: „Können wir denen da nicht helfen?“ Der Mann nickt: „Schon, schon, aber erst in zwei, drei Tagen, bis dahin haben wir die Fotoapparate und eine Tapete mit dem Hintergrund, vor dem sie fotografiert werden, im Camp, dann können wir die Bilder auch fälschen. Aber das kostet wesentlich mehr.“ Carlo nickt. „Gut, dann nehm' ich eben nur noch die Zahlungskräftigeren unter den Leuten mit.“

Ach ja, und dann ist da noch die Abrechnung: Carlo zieht einen Umschlag heraus, zählt die Scheine: 7 Millionen Lire (umgerechnet 7.000 Mark) bekommt der Mann mit der Uniform, dann bleiben wohl an die 3 Millionen für Carlo: „Der Kollege muß ja noch mit anderen teilen“, sagt er zur Begründung, warum der Mann mehr bekommt. „Sonst ist nämlich das Loch im alten Magazin morgen zu.“

Das ist aber kaum zu erwarten. Als der Mann mit der Uniform drinnen langsam über den Platz zur Fabrikhalle schlendert, kommen ihm zwei Männer entgegen, er gibt jedem etwas in die Hand, sie klopfen einander auf die Schulter, und danach verläßt der Mann das Camp wieder – aber nicht durch das Loch im Magazin, sondern ganz offiziell durch den großen Haupteingang, und die Carabinieri dort grüßen ihn freundlich.