Ein dritter Weg

■ Abschied vom kybernetischen Modell des sozialen Lebens - Anthony Giddens will eine Fusion von philosophischem Konservatismus und sozialistischem Denken

Das neue Buch des britischen Soziologen Anthony Giddens – er ist Leiter der berühmten London School of Economics – ist nicht nur ein akademisches, sondern ein ideenpolitisches Ereignis ersten Ranges. Giddens entwirft eine neue Theorie der Gesellschaft als Grundlage für radikale Reformen. Der Aufbruch beginnt mit dem Abschied von dem politischen Projekt der ersten Moderne. Die Welt ist nicht so geworden, wie es sich die Progressiven von damals erhofft – und wie es die Konservativen befürchtet hatten: Je mehr wir wissen, um so besser können wir steuern; und je besser wir steuern, um so eher lassen sich die sozialen Übel beseitigen und kann die Gesellschaft der Freien und Gleichen verwirklicht werden. Giddens nennt diese Idee das „kybernetische Modell des sozialen Lebens“, und er zeigt, wie die so vorangetriebene Modernisierung hinter dem Rücken der Akteure zu „selbstgemachten Unsicherheiten“ (Ulrich Beck) und zu neuen Problemen geführt hat.

„Jenseits von Links und Rechts“ versucht, Elemente des philosophischen Konservatismus und des sozialistischen Denkens auf neue Weise zu verbinden. Es sind drei große Veränderungen, die den alten Kontext von Politik haben obsolet werden lassen: Globalisierung, das Entstehen einer posttraditionellen Gesellschaft und das Eindringen von „sozialer Reflexivität“ in immer mehr Lebensbereiche. Unter Globalisierung versteht Giddens, anders als die enggeführte mitteleuropäische Debatte, nicht primär ein ökonomisches Weltsystem, sondern eine „Veränderung in Raum und Zeit“, die dazu führt, daß bisher fremde Menschen und Ideen, ferne Ereignisse und Lebensweisen direkte Folgen haben für die lokalen Lebenswelten der Menschen und vice versa. Mit dem Begriff der posttraditionellen Gesellschaft meint er nicht, daß Traditionen weniger wichtig werden, sondern eine Gesellschaft, „in der die Traditionen ihren Status ändern“: Sie werden nun ins offene Blickfeld gerückt; man kann sie nicht mehr nur bewahren, man muß zwischen ihnen auswählen, sie begründen und sich für sie entscheiden. Traditionen nur „in traditioneller Weise zu verteidigen“ wird zum Fundamentalismus. Das gilt für religiöse Traditionen wie für traditionelle Industriezweige (Bergbau, Landwirtschaft), für Lebensweisen (Familie, Freundschaft) wie für den traditionellen Wohlfahrtsstaat. Und soziale Reflexivität bedeutet, daß sämtliche Institutionen, ob Familie oder Gewerkschaften, Parteien oder Betriebe, Kirchen oder Liebe, es mit den Menschen zu tun haben, die sich nicht einfach ein- oder gar unterordnen, sondern die soziale Wirklichkeit, deren Teil sie sind, selbst hervorbringen wollen.

Diese Veränderungen erklären, warum der Sozialismus an Lebenskraft verloren hat und in die Defensive gedrängt worden ist. Doch „der Konservatismus steht vor Problemen von genau so tiefgreifender Art.“ Giddens unterscheidet sorgfältig, Rechts steht für ihn der Neoliberalismus, dessen Verbindungen zum Konservatismus eher schwach, dafür um so widersprüchlicher sind. Der Neoliberalismus entfesselt die Marktkräfte und fegt so alle Traditionen hinweg. Andererseits bleibt er auf Traditionen angewiesen, die er aber nicht aus sich selbst begründen kann. Ökonomisch marktradikal, sozial und politisch fundamentalistisch: das ist der Widerspruch des Neoliberalismus. „Die Rechte ist radikal geworden, während die Linke vor allem konservieren möchte, was von ihren sozialen Errungenschaften noch übriggeblieben ist.“ Tertium datur?

Für ausgewählte Bereiche versucht Giddens zu zeigen, wie eine weiterführende Politik jenseits von Links und Rechts aussehen könnte. Da ist einmal, was er die Politik der Lebensführung nennt, bei der es darum geht, individuelle Autonomie und gegenseitige Abhängigkeit, Emanzipation und Verantwortung für andere wieder in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander zu bringen. Was bedeutet es für die Lebenschancen aller (Frauen und Männer, Kinder und Eltern), wenn Männer nicht mehr früh am Morgen und im Leben zur Arbeit ausziehen und erst spät wieder heimkommen? Statt mit einer Vollbeschäftigungsrhetorik sich selbst zu täuschen und alles platt zu walzen, wäre zu fragen, welchen Stellenwert Erwerbsarbeit haben soll gegenüber anderen Werten oder wie die Lebensphasen (Ausbildung, Arbeit, Ruhestand) anders austariert und gemischt werden können.

Giddens plädiert, zweitens, für eine dialogische Demokratie. Die liberal-repräsentative Demokratie habe ausgereicht, als es noch stabile sozialmoralische Milieus und homogene Interessenlagen gab. In einer dialogischen Demokratie sei es nicht mehr nur Aufgabe der Politik, Interessen durchzusetzen und Mehrheiten zu organisieren, sondern vor allem Freiräume zu schaffen für einen öffentlich geführten Dialog. Um ein aktuelles Beispiel zu zitieren: Es wäre ziemlich fundamentalistisch, eine Industrie (die Steinkohle) zu konservieren, die Tradition, aber keine Zukunft hat. Es entspräche nicht den Prinzipien der dialogischen Demokratie, eine entsprechende Politik einfach zu deklarieren, statt den öffentlichen Dialog zu suchen.

Und dritten erfordert eine Politik jenseits von links und rechts, den Wohlfahrtsstaat neu zu denken und Vorstellungen von einer „positiven Wohlfahrt“ zu erfinden. „Wohlfahrtsmaßnahmen müssen befähigende Wirkung haben und nicht bloß ,ausgeteilt‘ werden.“

Mit diesem Buch beginnt der Suhrkamp Verlag eine neue, von Ulrich Beck herausgegebene Reihe: „Edition Zweite Moderne“. Zeitgleich erscheint von Beck der Sammelband „Kinder der Freiheit“. Warnfried Dettling

Anthony Giddens: „Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie“. Suhrkamp Verlag, 344 S., 30 DM