Form ohne Grenzen

■ Wo Welthandel und Liebesgeschichten in einer Weltgesellschaft spielen, was nutzt da der Begriff "Nation"?

Es gibt keinen soziologischen Begriff der Nation. Die Nation war der Soziologie fast immer suspekt, und war das einmal nicht der Fall, dann wurde die Soziologie suspekt. „Nation“ ist eine Abstammungskategorie (von lat. natio, nasci = geboren werden). Die Soziologie jedoch ist angetreten, Abstammungskategorien grundsätzlich nicht beim Wort zu nehmen, sondern als Konstruktionsleistung unter unwahrscheinlichen Bedingungen zu interpretieren. Dementsprechend kann die Soziologie nicht fragen, was eine Nation ist, sondern kann nur beschreiben, wozu eine Nation dient, nämlich dazu, Gemeinschaftsgefühle zu produzieren, die anders in der modernen Gesellschaft nicht mehr zu erlangen sind. Die Soziologie muß den Gebrauch der Nationenkategorie rekonstruieren, und das zwingt sie auf Umwege, die argumentativ anspruchsvoll sind und sowohl die rekonstruierten Kategorien als auch die zur Rekonstruktion verwendeten Begriffe dem Alltagsverstand entziehen.

Dementsprechend vorsichtig näherte sich die Soziologie der Nation. Momente der Nationenbegeisterung in der Gründerzeit, beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs und gegen Ende der Weimarer Republik wurden relativ schnell überwunden. Das Fach, wenn man so sagen darf, war hinreichend skeptisch gegenüber der Herstellung von Gemeinschaftsgefühlen, um bald festzustellen, welches Aggressionspotential in der Nation sowohl gebunden als auch freigesetzt werden konnte. Man wurde sich nie einig, ob man die Nation ebendeswegen als Ordnungsform empfehlen oder vor ihr warnen sollte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wich das Fach dieser Frage in die Beschreibung von weltweiten Modernisierungsprozessen aus und erklärte die Nation zu einem Produkt und Träger dieser Modernisierung. Jetzt galt die Nation nicht mehr als das höchst Partikulare, sondern als universale Errungenschaft, die schon deswegen friedenssichernde Bedeutung hat, weil die moderne Gesellschaft in Nationen organisiert ist. Man sprach von der amerikanischen, der deutschen, der italienischen Gesellschaft und übersah, daß wirtschaftliche Beziehungen, wissenschaftliche Wahrheiten und Unwahrheiten, Liebesgeschichten, religiöse Glaubensgemeinschaften, soziale Bewegungen und sogar rechtliche Einschränkungen längst über Ländergrenzen hinweg zustande kommen. Die moderne Gesellschaft ist als Weltgesellschaft zu verstehen, in der der Nationenbegriff allenfalls ein Bewußtsein sozialer Ungleichheit verwaltet.

Wie weit der Modernisierungsbegriff der Nation der Ordnung des Kalten Krieges geschuldet war und deswegen kein Begriff, sondern eine Kategorie der selbstverschuldeten Ablenkung war, wurde erst deutlich, als die jüngeren Ereignisse im Iran, in Jugoslawien, in Afrika und andernorts die andere Seite der Nation, die ausgeblendete Seite der Medaille, wieder vor Augen führte. Nach wie vor funktioniert die Nation als Mechanismus zur Forcierung des Partikularen, ja des Widerspruchs gegen die moderne Gesellschaft, eines Widerspruchs freilich, der um so brisanter ist, als er die Teilnahme an dieser Gesellschaft einklagt.

Dirk Richter erinnert in seiner Doktorarbeit sehr umsichtig an diese Begriffsgeschichte, die die Geschichte eines zu vermeidenden Begriffs ist. Aber er zieht daraus die falschen Schlüsse. Er glaubt, wo es keinen soziologischen Begriff gibt, müsse man einen produzieren. Er zieht dazu den Begriff der Weltgesellschaft und den Begriff der Form aus der soziologischen Systemtheorie heran und läuft sehenden Auges in das Dilemma eines Begriffs, der keiner sein soll.

Zwei Versionen des Nationenbegriffs bietet er an. In der ersten Version ist die Nation die Einheit der Differenz von Staat und Publikum. Als Nation gilt danach, was aus einem Publikum politischer Maßnahmen eine Gemeinschaft macht und dieser Gemeinschaft die Form des Staates gibt. Leider überbietet Richter diese erste Version in einer zweiten, indem er die Form des Staates zu einem kollektiven Akteur stilisiert und diesen Akteur mit dem Problem des Fremden und des Eigenen konfrontiert. In der zweiten Version ist die Nation daher die Bezeichnung des Eigenen zwecks Ausschluß des Fremden.

Mit dieser zweiten Version trifft Richter historische und aktuelle Tendenzen ausländerfeindlicher Nationalismen. Mit Hilfe des Formbegriffs kann er die einseitige Verwendung der zweiseitigen Unterscheidung des Eigenen und des Fremden beschreiben und darauf hinweisen, daß hier wie in jeder Unterscheidung die Innenseite der Unterscheidung von dem mitbestimmt wird, was sie auf der Außenseite ausschließt. Wenn es also darum geht, das Eigene zu bezeichnen, so muß dazu das Fremde nicht nur ausgeschlossen werden, sondern es infiziert über diesen Ausschluß das Eigene und zwingt dieses in um so artifiziellere Selbstbehauptung.

Sosehr diese Beschreibung bei der Einschätzung von Nationalismen weiterhilft, so sehr bleibt die Analyse bei Oberflächenphänomenen stehen. Brisant wäre die Arbeit von Richter geworden, wenn er der ersten Version seines Nationenbegriffs nachgegangen wäre. Denn dann hätte er sich auf eine detaillierte Analyse politischer Mechanismen einlassen müssen. Die Politik kommt bei ihm fast nur in der Semantik des Gemeinwohllieferanten vor. Tatsächlich jedoch wäre die dazu durchaus passende Semantik zu analysieren gewesen, die innerhalb der Politik aus dem Begriff der Nation einen durchaus ambivalenten Nutzen zu ziehen versteht. Die Semantik der Nation zieht ja auch deswegen gegenwärtig wieder so weite Kreise, weil sie sich sowohl nach der Seite der Ohnmacht als auch nach der Seite der Macht auslegen läßt. Die Politik stellt fest, daß sie im Konzert der Weltgesellschaft kaum noch zu hören ist, und läßt ihr Gewaltpotential spielen, damit das nicht so bleibt.

Es geht hier nicht nur um ausländerfeindliche Tendenzen. Sondern es geht um die Suche der Politik nach einem Publikum, die einen Beobachter schon deswegen beunruhigen muß, weil man sicher sein kann, daß sie ihr Publikum finden wird. Es wäre wünschenswert, über die Funktion des Nationenbegriffs in der Konstitution von Politik eine Studie lesen zu können. Richter hat sich leider ablenken lassen. Dirk Baecker

Dirk Richter: „Nation als Form“. Westdeutscher Vlg., 294S. 54DM