Priesterin der Empfindung

■ Aufstieg und Fall Umm Kalsums, Kairos Stimme der arabischen Mystik und Moderne, in Selim Nassibs musikalischem Geschichtsroman "Stern des Orients"

Mit Versfüßen, Hebungen und Zeilenmaßen kennt der junge Dichter sich aus, als er nach seinen Pariser Studien ins Kairo der zwanziger Jahre zurückkehrt, kaum aber mit den Geheimnissen des leibhaftigen Singens und Gesungenwerdens. Es trifft ihn mit der Macht einer Initiation, als ihm in einem kleinen Theater der ägyptischen Hauptstadt seine eigenen Worte entgegenfliegen, dargeboten aus dem Mund einer halbwüchsigen Beduinin: „Diese Stimme schmeichelte sich nach Gutdünken ein, erfüllte mich mit ihrem schamlosen Wesen und war sich dessen nicht einmal bewußt.“

Eine Stimme als Counterpart und Verführerin des Erzählens – mit dieser Überwältigung läßt der Libanese Sélim Nassib seinen Roman über Umm Kalsum, den „Stern des Orients“, beginnen. Es ist die Geschichte einer Macht, die nicht aus dem Schulwissen kommt, sondern aus spontaner, unwiederholbarer Neuschöpfung der Tradition: als arabischer Folkgesang.

Aus diesem Moment heraus vermag sie zu zaubern. „Die Stimme“ kann im Namen Allahs Sex mit den Seelen veranstalten, ohne die Regeln des Koran zu verletzen, ja, ohne auf der Bühne (vorerst) mehr zu zeigen, als ein Gesicht unter bäurischen Schleierhauben. Mehr noch, sie besitzt in ihrer Naivität die Fähigkeit, Buchstaben zu verwandeln. „Das waren nicht mehr nur Worte, sondern die Sache selbst, meine Empfindungen, mein innerstes Geheimnis wurden vor aller Welt offengelegt“.

Die Szene ist fiktiv, aber trotz ihrer Märchenhaftigkeit nicht unwahrscheinlich. So oder so ähnlich könnte sie sich tatsächlich ereignet haben, die erste Begegnung zwischen dem 1981 gestorbenen Übersetzer und Textdichter Ahmad Rami, aus dessen Perspektive erzählt wird, und Umm Kalsum, der Callas des mittleren Orients und größten arabischen Sängerin aller Zeiten. Zusammen bildeten sie ein Erfolgsgespann: Er schrieb ihr die Hits – 137 der 283 Lieder, die sie zeitlebens interpretierte –, sie war das Medium, das seiner Sehnsucht Klang verlieh.

Doch die Liebe bleibt platonisch, und gerade das hält „die Stimme“ im Lauf ihrer unglaublichen Karriere frei für immer neue Koalitionen mit mächtigen Liebhabern – die sie allesamt überlebte.

Nassibs historischer Roman folgt seinem Medium in ein Kairo der Zuwanderer, die am Boom der ägyptischen Metropole teilhaben wollen. Unter dem „Schutz“ von Vater und Bruder hat das Landei aus dem Nildelta es Mitte der zwanziger Jahre so weit geschafft, und das, obwohl traditionell nur Männer das Lob des Propheten singen dürfen. Aber wer fragt schon so genau, wenn das Geld hereinkommt und von den spärlichen Einkünften ein Esel angeschafft werden kann? Umm (= die Mutter) Kalsum ist mitten im ägyptischen Patriarchat die geheime Ernährerin der Familie, und das gibt ihr die Chance, über das engere Protektorat hinauszuwachsen und sich an die höfische Tradition der Stadt anzuschließen. Unter dem Einfluß urbaner Sheiks und anderer Charmeure, die im Exil die Moderne gerochen haben, singt sie plötzlich die Musik des Aufbruchs, aber sie singt, ohne die mystische Botschaft zu verflachen oder an den westlichen Mainstream zu verkaufen.

Das unterscheidet sie von Munira al-Madhia, „der Sultanin“, Kairos Königin der Operette und des schlüpfrigen Lieds, die sie in eine Boulevard-Schlammschlacht verwickelt. Die Affäre ist von höchstem Interesse auch für die Intellektuellen, weil sie Gelegenheit gibt, öffentlich – und bezeichnenderweise am Beispiel neuer Formen von Weiblichkeit – über das Wesen einer arabischen Moderne zu philosophieren. Es ist, als hätte das Land zu wählen zwischen zwei Ikonisierungen der Zukunft, der Sultanin und der Dörflerin. Nicht zuletzt unter dem Einfluß der Aristokratie geht Umm Kalsum als Siegerin aus dem Kampf hervor. Als sie 1932 mit noch nicht 30 Jahren beim Abschlußabend eines großen Kongresses der arabischen Musik vor König Fuad singt, ohne Schleier und mit charakteristischer Sonnenbrille, ist sie die unumstrittene Herrscherin des arabischen Songvortrags. Der Hit dazu kommt aus der Werkstatt des mehrfach verstoßenen und wieder hervorgeholten Rami: „Wenn ich dir verzeihe.“

Nassib, der lange Nahostkorrespondent für Libération war, erzählt die Geschichte einer konservativen Revolutionärin und Karrierefrau aus dem inneren Kreis männlich-romantischer Triebzielverfehlung heraus. Alles ist Aufschub und flammendes Verzehren im Text, und das gibt ihm Gelegenheit, in die geheimen Gemächer hinabzusteigen, wo die Heldin, bedient von Verwandten und intimen Zuträgerinnen, mitten in der Metropole eine Art bäuerlich-verschworenen Harem unterhält. Der Gang in den Untergrund gibt auch Raum für eine Spekulation: Die Frau, die sich nach außen hin als Braut, Ehefrau und Mutter projizierte, liebte in Wirklichkeit die Frauen – Männer sind ihr nur Vehikel und Zweckpartner, die die Gesangsmaschine am Laufen halten.

Doch gerade im ewigen Aufschub sieht der Liebestor Rami sich mit der arabischen Welt vereint, die im Glauben an die Erotik des Gesangs sich selbst verfehlt: „Die Reaktion des Publikums überstieg jedes Maß, etwas anderes mußte im Spiel sein. Etwas, das über den Bereich der Liebe hinausging... oder die Liebe umfaßte einfach alles, unsere Lage, unsere Zeit, ganz Ägypten. Wir wollten zeitgemäß sein, unabhängig, modern, wir rannten dem Fortschritt hinterher, selbst wenn wir ihn ablehnten, verzehrten wir uns nach ihm. Vielleicht drückte ,Wenn ich dir verzeihe‘ unbeabsichtigt unseren allgemeinen Seelenzustand aus, vielleicht war meine Dörflerin unbewußt die Priesterin dieser Empfindung. Der Gedanke hatte etwas Beängstigendes.“

Beängstigend ist der Gedanke auch deshalb, weil er an die innerste Verkuppelung von Kunst und Macht rührt. Die Stimme sucht sich ihre Kanäle, sie koaliert in den Vierzigern und Fünfzigern mit den neuen, den soldatischen Herren, aber auch den neuen Medien, damals dem Radio: „Ihr Atem fuhr in die Kabel, in den Äther, über einen halben Kontinent. Aden und Tripolis, Damaskus und Bengasi.“

Jetzt erst beginnt die eigentliche Superstar-Ära. Nach dem Ende der Königsherrschaft sieht Umm Kalsum sich an der Seite von Staatschef Nasser, der sie kurzerhand zum Denkmal erklärt – wer würde schon die Cheopspyramiden verbieten? Gemeinsam beschicken sie die Transistoren: Er mit Reden, sie mit Gesang. Mit dem Ohr am Gerät auf Empfang: die gesamte arabische Welt.

Warum hat noch niemand diesen Stoff verfilmt? Mit Madonna in der Hauptrolle? Was Klaus Theweleit für die Verbindung Evita und Juan Perón, das Traumpaar an der Spitze Argentiniens, beschrieben hat, trifft auch hier zu: In Gesellschaften, in denen der Masse der Arbeitenden und Armen eine dünne Oberschicht gegenübersteht, übernehmen Kommunikationsmedien die Vermittlung zwischen göttlichem Gesetz und populärem Begehren. Sie sind der Kanal, durch den weltliche Macht die Religiosität beerbt: Indem Umm Kalsums mystisch geprägter Gesang aus demselben Radio kommt wie die politische Rede, macht sie Propaganda für Nassers panarabische Machtträume.

Ägyptens Niederlage im Sechstagekrieg gegen Israel ist der erste und einzige Karriereknick der „Mutter“ der arabischen Nation, sie überlebt ihn als Trümmerfrau, die zur Sammlung aufruft, doch sie bleibt bis zu ihrem Tod 1975 eine Priesterin ohne Monopol.

Die Potentaten sind in ihre Region zurückverwiesen, das Stammeswesen blüht, das staatliche Radio wird als Hauptmedium abgelöst von einem anarchisch boomenden Kassettenmarkt, in dem „die Stimme“ nur noch eine unter vielen ist. Die Jüngeren hören Rai- Musik, wollen weg aus der Misere, aber die Botschaft schmeckt immer noch nach Schicksal. Sie will es, daß man einem Bauch angehört, den man nicht verlassen kann.

Sélim Nassib, der, anders als sein Alter ego Rami, irgendwann nicht aus Paris zurückgekehrt ist, läßt seinen wunderbar genauen musikalischen Geschichtsroman in einem Brief an die Nachgeborenen enden: Das Projekt einer arabischen Moderne ist verspielt, Fundamentalisten sind dabei, die Macht zu übernehmen – „die Kinder unseres Scheiterns, unsere einzigen Kinder“. 50 Millionen Einwohner hat das Land statt 14, wie in den Zwanzigern, keine Stimme in Sicht, die hilft. Umm Kalsum aber gibt es mittlerweile auf CD, herausgegeben in der Reihe „Anthologie der Arabischen Musik“ (tatsächlich als Frankreich-Import erhältlich). Den Vorhang zu, und alle Archive offen. Thomas Groß

Sélim Nassib: „Stern des Orients“. Aus dem Französischen von Hans Thill. Verlag Wunderhorn 1997, 281 S., 39,80 DM