Lehrer lernen surfen

■ Vor einem Jahr ist in Bonn der Verein "Schulen ans Netz" gegründet worden. Erste bescheidene Erfolge sind erkennbar

Einsam und verlassen, die Tastatur mit einen Plastikschoner abgedeckt, steht der PC in einem ansonsten kahlen Raum. Penibel sind Boxen und Maus auf dem leeren Pult ausgerichtet. Daß der Rechner in dieser Hamburger Grundschule am Netz sein könnte, läßt sich nur aus dem Kabel schließen, welches unterm Tisch in der ISDN- Buchse endet. Ein Ausstellungsstück, kein Arbeitsgerät – und auch ein Sinnbild für das Projekt „Schulen ans Netz“, für das der deutsche Forschungsminister seit einem Jahr die Trommel rührt? Am anderen Ende der Stadt ist mehr los. Die Tore sollen für das Schulfest geöffnet werden. Und so drängeln die Drittkläßler an die Rechner, auf denen sie gleich Urkunden ausdrucken werden. Hastig schiebt ein Neunjähriger den Mauszeiger über den Schirm, klickt hier, drückt da und überprüft die Einstellungen. Alles in Ordnung? Der Probedruck funktioniert nicht. „Wie war das? Wie war das?“ überlegt er und kaut auf den Lippen. Wieder klappen Programmfenster auf und zu, und schließlich Aufatmen: Der Nadeldrucker kreischt und spuckt die erste Urkunde des Nachmittags aus.

Das Netz jedoch ist davon nur am Rande berührt: Einer der Rechner, an dem die Schüler hantieren, ist von den 3.000 Mark gekauft worden, die Hamburg jenen Grundschulen zur Verfügung stellte, die einen Internetzugang einrichten wollten. Der ISDN-Anschluß wurde schon im letzten Sommer gelegt, Disketten mit Netzsoftware vom Deutschen Forschungsnetz e.V. („DFN-Verein“) waren ebenfalls eingetroffen – nur die ISDN-Karte harrt noch des Einbaus.

Wo ist das Problem? Der Ausbildungsstand der Lehrer genügt solchen Anforderungen noch nicht. Zwar arbeiten einige zu Hause mit dem PC, haben aber dabei so viele Tücken kennengelernt, daß sie vor der Anbindung ans Netz zurückschrecken. Um diesen Mißstand zu beheben, hat das Hamburger Institut für Lehrerfortbildung bereits 2.200 Pädagogen auf das Internet eingestimmt. Die Angebote reichen von einer Einführung in das Internet bis hin zum Aufbau eines Linux-Rechners als Server für das Schulnetz. Das Interesse ist groß, und die Seminare sind überfüllt. Da aber Lehrer aller Schularten und Fächer angesprochen werden sollen, bringen sie extrem unterschiedliche Vorkenntnissse mit: Während die einen sich langweilen, versuchen die anderen verzweifelt, den Mauszeiger zu positionieren.

Initiiert wurde das Treiben vom Verein „Schulen ans Netz“ (http:// www.san-ev.de/) mit Sitz in Bonn, den Forschungsminister Rüttgers und Telekom-Chef Sommer im April letzten Jahres gegründet haben. Auch die Bundesländer sind im Vorstand vertreten, und eine bunte Palette von Sponsoren aus Hard- und Softwareindustrie, Verlagen und Universitäten unterstützt den Verein mit Geld- und Sachspenden, aber auch mit Dienstleistungen. Es ist wohl nicht nur der Werbeeffekt, der sich in diesem Engagement der Privatwirtschaft wohltätig geltend macht. Die Aussicht, Deutschland könne als informationstechnisches Entwicklungsland auf der Strecke bleiben, spornt an. 10.000 Schulen sollen bis zum Jahr 2000 am Netz hängen. Stufenweise werden Fördermittel ausgeschrieben, für die zweite Antragsrunde sind 7.000 Formulare verschickt worden, die Bewerbungsfrist wurde bis zum 16. April verlängert. Die erwünschte flächendeckende Versorgung kommt so schnell dennoch nicht zustande. Dafür fallen die Voraussetzungen in den einzelnen Bundesländern zu unterschiedlich aus. In Hamburg sind im Rahmen der seit 1988 angestrebten „Informationstechnischen Grundbildung“ fast alle weiterführenden Schulen mit Rechnern ausgestattet, im Zuge des Bonner Programms kamen nun ISDN-Anschlüsse und Updates der Hard- und Software hinzu. Zusätzlich wurden 40 Grundschulen mit einem PC ausgerüstet und wurde die Fortbildung in Angriff genommen.

Auf einer solchen Basis kann nicht überall aufgebaut werden. Je nach den Mitteln, die im Haushalt der Länder zur Verfügung stehen, klaffen große Lücken sowohl in bezug auf die Ausstattung als auch auf die Maßnahmen zur Fortbildung. Vereinzelt versuchen Schulen daher, ihre Netzanbindung anders, ohne den Bonner Verein zu organisieren. Sie bemühen sich um Sponsoren in ihrem lokalen Umfeld. Und die Lehrer sitzen nach. Bei der Hotline des DFN-Vereins kennt man schon das Phänomen, daß der Lehrer die Nummer wählt und dann den Hörer an einen Schüler weiterreicht. „Eine beratungsintensive Zielgruppe“ nennt Gudrun Quandel vom DFN ihre neue Klientel und lacht.

Was motiviert Lehrer wie Schüler, den bekannten Lehrstoff zu erweitern? Den einen bietet sich die Möglichkeit, Unterrichtsmaterial über das Netz zu besorgen, zum Beispiel beim „Deutschen Bildungsserver“ (http://dbs.schule .de/), der von der Humboldt-Universität in Berlin gepflegt wird. Die Datenbank sortiert Lehrstoffe nach Fächern und Schulstufen. Aber ein praktischer Test, die Nachfrage nach Anregungen für den Kunstunterricht in der Grundschule, zeitigte nur ein Ergebnis: einen Verweis auf einen amerikanischen Server. Das Dokument selbst erwies sich als wertlos – die Vorschläge, etwa zur Herstellung von Transparentpapier, waren bereits bekannt.

Der Magdeburger Medienphilosoph Mike Sandbothe begegnet solchen Beobachtungen mit dem Argument der Zeit. Er verspricht Lehren und Schülern, daß sie, anstatt mühsam in Bibliotheken nach Anregungen forschen zu müssen, wieder mehr Muße haben werden, „um zu denken, zu analysieren und mit ihren eigenen Überlegungen kreativ voranzuschreiten“ (http:// www.uni-magdeburg.de/~iphi/ ms/schule.html).

Die chaotischen Zustände im Netz lassen solche Prophezeiungen nach Zukunftsmusik klingen. Die Orientierungsmöglichkeiten, die Vorhaben wie der Deutsche Bildungsserver bieten sollen, müssen erst noch ausgebaut werden. Eine ganze Unterrichtseinheit kann zudem sehr umfangreich sein und, wenn sie über das Netz bezogen wird, die Telefonkosten in schwindelnde Höhen treiben.

Die Überlegungen von Hartmut Bluhm am Hamburger Institut für Lehrerfortbildung gehen daher in eine andere Richtung. Unterrichtsmaterial, sagt er, soll auf CD- ROMs gepreßt werden und aus dem Internet nur mit den jeweils neusten Informationen aufgefrischt werden. Damit aber würde das Netz, das mit soviel Mühe eingeführt werden soll, wieder aus der Schule verschwinden. Wozu der Aufwand, wenn neue Informationen auch auf Disketten verteilt werden könnten?

Vielleicht, weil so der Unterricht lebendiger gestaltet werden kann: Einige Schulen befassen sich mit E-Mail-Projekten. Im Erdkundeunterricht eines Gymnasiums in Hamburg-Eimsbüttel arbeiteten sie mit einer amerikanischen Partnerschule zusammen. Gemeinsames Thema: das Ozonloch. Schüler und Schülerinnen diesseits und jenseits des Antlantiks sammelten unter anderem Daten zum Autoverkehr und zum CO2-Ausstoß in ihrer jeweiligen Umgebung und tauschten sie über das Netz aus.

Aus Schülersicht gewinnt damit nicht nur der Englischunterricht einen anderen Sinn: Der theoretischen Übung folgt die praktische Umsetzung. Und ganz nebenbei wird die überalll geforderte „Medienkompetenz“ erworben, manchmal besser, als der Schule lieb ist: Das Internet bietet auch Gelegenheit für neuartige Pennälerstreiche: Unvermittelt werden etwa ahnungslose Surfer von den Webseiten der Schule ins Angebot des Playboys geleitet.

Die Schattenseiten des Netzes jedoch, die Pornographie und der Rechtsradikalismus, bleiben in der Schule ohne Bedeutung. Die Beschäftigung mit dem Internet gehört zum Unterricht und steht unter Aufsicht. Sie dient unmittelbar der politischen Bildung, wenn zum Beispiel in Projektwochen Anschauungsmaterial über das Dritte Reich aus dem Internet geholt wird.

Das Problem des Datenschutzes wird dagegen erst ab der elften Klasse im Informatikunterricht behandelt. Diese gravierende Veränderung, die sich mit der Nutzung des Internets abzeichnet, hat im Lehrplan noch keinen Platz gefunden. Es dürfte sich aber als unabdingbar erweisen, über die Datenspuren des Surfens aufzuklären und zu erklären, wie die Privatsphäre geschützt werden kann.

Nach wie vor liegt die Unterrichtsgestaltung im Ermessen der Lehrer. Deren Interesse und Fähigkeiten bestimmen, ob das Netz im Schulalltag berücksichtigt wird. Von ihrer Initiative hängt es ab, den Fremdkörper Computer zu einem Medium zu machen, das zur Anschaulichkeit und Alltagsnähe des Unterrichts beitragen kann. Vielleicht sollten sie sich an der pragmatischen Unverfrorenheit der Drittkläßler ein Beispiel nehmen und die Rechner so lange malträtieren, bis das Ergebnis stimmt. Patrick Goltzsch

pat@minerva.hanse.de