Zum Schwofen über die Oder

An der Europa-Uni in Frankfurt (Oder) hat „Spotkanie“ das Sagen. Die polnisch-deutsche Studentenliste setzt auf Verständigung – und auf Sankt Andrzejki  ■ Von Vera Gaserow

Er versucht es immer wieder. Schon aus Prinzip. Einen freundlichen „Guten Tag“ wünschen und schnurstracks weitergehen. Manchmal klappt es. Meist jedoch gebietet eine Stimme unter grüner Mütze Einhalt: „Dokumente. Passport.“ Das ärgert den jungen Mann. „So ein Quatsch. Von der Grenze wird man in ein paar Jahren eh nichts mehr sehen.“ Die Grenze verläuft auf der Brücke über die Oder, wo früher der Eiserne Vorhang war und heute die Späher hinter den Brückenpfeilern peilen, ob die Luft rein ist für einen illegalen Zigarettentransfer.

Der junge Mann passiert diese Grenze täglich zwei- bis dreimal – ohne Zigarettenstangen, dafür mit einem Stapel Bücher unterm Arm. Matthias Gehrmann ist Student an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), einer von 2.300, und er wohnt in Polen. Die Brücke, über die er täglich ganz selbstverständlich geht, ist zum Emblem einer ungewöhnlichen Gruppe von StudentInnen geworden, die mit Leben füllt, was Anspruch und Etikett der Modell-Uni Viadrina ist: das Miteinander zwischen den schwierigen Nachbarn Deutschland und Polen.

„Spotkanie“ – „Begegnung“ – nennen sich die rund 40 AktivistInnen mit unterschiedlichen Pässen und Muttersprachen, die sich Montag abends in der Uni versammeln. Malgorzata aus Krakow ist dabei und Eva aus Berlin, Mateusz mischt mit und Frederike aus Osnabrück. Derzeit herrscht Hochstimmung in der Runde. Ende Januar waren Studentenparlamentswahlen, und das Ergebnis brachte eine kleine Sensation. The winner is: Spotkanie, die polnisch- deutsche Liste. 56 Prozent der Stimmen hat das grenzüberschreitende Bündnis bekommen, das bedeutet eine Mehrheit im studentischen Parlament und im AStA. Gekränkt wie verschmähte Liebhaber grübeln seitdem die altbewährten AStA-Funktionäre von Jusos bis RCDS: Was haben die nur, was wir nicht haben?

Am besseren hochschulpolitischen Programm kann es nicht gelegen haben. Spotkanie hat eigentlich keines. Im Gegensatz zu den anderen Hochschulgruppen. Die präsentierten komplette Konzepte – nur waren es offenbar die falschen. Jedenfalls für die StudentInnen dieser Universität, die eine besondere sein will in ihrer besonderen Lage an der Schnittstelle zwischen West- und Osteuropa. Spotkanie hat nur ein Credo: „Begegnung“. Und das zieht.

„Begegnung“, „Brückenschlag“, „deutsch-polnische Nachbarschaft“, diese Schlagworte dürfen in keiner offiziellen Rede an der Frankfurter Uni fehlen. Und geredet wurde viel, seit die Viadrina 1992 ihren Studienbetrieb aufnahm: Der Bundespräsident, der deutsche Außenminister, der polnische Staatspräsident, der brandenburgische Mininisterpräsident – sie alle fanden schöne Worte für dieses einmalige Projekt. Mindestens ein Drittel der Studienplätze ist für ausländische Hochschüler reserviert, vorrangig für Anwärter aus Polen.

Heute kommen rund 900 der 2.300 Studierenden aus Polen, knapp 90 stammen aus anderen nichtdeutschen Landen. Nur: Gutgemeinte Quoten und schöne Festtagsreden schaffen noch kein Miteinander. Und die StudentInnen in gemeinsame Vorlesungen und Seminare zu setzen bringt nicht automatisch Völkerverständigung in Gang. Nach anfänglicher Euphorie blieben denn auch Deutsche und Polen hübsch getrennt, was in einer übersichtlichen Uni-Stadt wie Frankfurt ein wahres Kunststück ist. „Die Deutschen interessieren sich nicht für uns“, klagten die polnischen StudentInnen. „Die Polen hocken nur über ihren Büchern und mischen sich nicht in studentische Politik ein“, kam die Schuldzuweisung zurück. Einig war man sich nur in einem Punkt: daß man sich zwar redlich mühte, miteinander zu reden – aber meist übereinander sprach.

Im Frankfurter Oderturm sitzen Judith aus Berlin und Gosia aus Krakow bei Kakao mit Sahne. Beide studieren Jura an der Viadrina, doch erst die Arbeit in der polnisch-deutschen Liste hat sie zusammengeführt. „An der Uni läuft man ziemlich nebeneinanderher“, sagt Judith, „ohne Spotkanie würde ich bis heute kaum einen Polen kennen.“ Jetzt, finden Gosia und Judith, gibt es eigentlich keine Abgrenzungen mehr zwischen polnischen und deutschen Studentinnen – „westdeutschen!“, die Einschränkung ist beiden wichtig.

„Die Ossis sind anders, die gucken nur nach Westen. Die haben eher Vorbehalte und ziehen sich zurück“, sagt Gosia, und sie steht mit diesem Vorwurf nicht alleine. „Einige von denen sind noch keinen einzigen Schritt über die Grenze gegangen“, schütteln MitstudentInnen den Kopf. Vielleicht ist die Abgrenzung der „Ossis“ eher brandenburgischer Provinzialismus als Polenfeindlichkeit. Denn die ostdeutschen StudentInnen kommen meist nicht wegen des internationalen Anspruchs an die Viadrina, sondern weil die Uni vor der Haustür liegt.

Egal, das Urteil über die Ossis hat sich eingefressen und wird durch eine polenfeindliche Stimmung in der Stadt immer wieder bestärkt. „Durch die Begegnung mit Polen habe ich viel über die Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschen gelernt“, meint Judith, „die Polen sind mir einfach näher als die Ossis.“ Näher vielleicht, aber wirklich vertraut?

„Das Verhältnis ist ungleichgewichtig“, räumt Judith ein, „die Polen machen einen viel größeren Schritt in unsere Richtung als wir in ihre.“ Die beiden JurastudentInnen sind selbst das beste Beispiel dafür: Gosia spricht perfekt Deutsch – sonst hätte sie die Aufnahmeprüfung an der Viadrina nie bestanden. Judith hat sich fest vorgenommen, Polnisch zu lernen – und findet doch „irgendwie“ nie Zeit dafür. Gosia kennt „fast alles von Deutschland – Köln, Dresden, Stuttgart, Krefeld“. Judith muß im Gegenzug passen. Polen ist für sie „ein großes schwarzes Loch“. Gosia will sich auf Europa-Recht spezialisieren. Ihr Traumziel heißt Brüssel. Judith möchte Richterin werden oder Staatsanwältin. Aber gewiß nicht in Polen.

Daß Gosias Studentenheim drüben in Slubice einen eigenen Andachtsraum hat und dort einmal die Woche der Priester auftaucht – Judith kann es „bis heute nicht fassen“. Aber zum Glück ist außer Gottesdienst auch Party. Die Samstagsfeten in den Slubicer Studentenheimen sind auch auf der deutschen Seite längst der Geheimtip. „Die Polen“, schwärmt Judith, „die halten sich nicht am Bier fest wie die Deutschen, die tanzen einfach los und machen Stimmung.“ Aber ein bißchen komisch sind sie schon, jedenfalls die polnischen Männer. „Die sind so förmlich, halten den Frauen immer die Tür auf.“ Judith findet das „richtig albern“, für Gosia ist das „völlig okay. Das zeigt doch nur, daß sie die Frauen schätzen.“

Und dann müssen beide über sich selber staunen. Auf die Frage, was sie an den Nachbarn auf der jeweils anderen Seite besonders schätzen, fällt beiden genau dasselbe ein, nur mit umgekehrter Rollenverteilung: „Die Polen sind nicht so bierernst. Sie sind offener und hilfsbereiter als die Deutschen“, sagt Judith. „Die Deutschen sind offener und freundlicher. Die Polen lächeln nicht, sie sind müde und grau“, meint Gosia.

Judith und Gosia – eine Begegnung, wie sie unter Frankfurts StudentInnen immer selbstverständlicher wird. „Der Prozeß geht langsam, aber er geht endlich voran“, beobachtet Gerhard Jakob, Polenexperte und Dozent am Lehrstuhl für Fremdsprachendidaktik, „die polnisch-deutsche Liste hat dabei wie eine Initialzündung gewirkt. Die bauen jetzt von unten auf, was bisher nur Festtagsreden waren.“ Zu ähnlichem Lob für Spotkanie kam im Dezember auch die renommierte Körber-Stiftung. Die Liste habe „ein gemeinsames studentisches und kulturelles Leben entfaltet, das an der deutsch-polnischen Grenze einmalig“ sei. Das brachte Spotkanie den „Jugend- Oscar 96“ der Stiftung ein.

Die preigekrönte Idee muß am Küchentisch von Matthias Gehrmann und seinem Mitbewohner Martin Schumacher geboren worden sein. Der Festtagsreden überdrüssig, riefen sie im Herbst 95 zu einem polnisch-deutschen Treffen auf, und siehe da: Plötzlich waren auch die polnischen StudentInnen an Hochschulpolitik interessiert. Als erste Aktion lud Spotkanie ins Kulturhaus von Slubice zur Andrzejki-Feier ein. Andrzejki? Das war für die StudentInnen auf der deutschen Seite ebenso nichtssagend wie unaussprechlich. Dennoch – der Namenstag des Heiligen Andrzejki, in Polen feste Tradition, wurde zum Renner. Klasse Musik, viel Schwof, witziges Programm – die Massen strömten über die Oder-Brücke. Zur Andrzejki- Feier 1996 kamen dann schon 500 Gäste, und der Saal wurde zu eng.

Vor allem mit außeruniversitären und kulturellen Aktivitäten hat Spotkanie das Miteinander angeschoben. Reisen nach Krakow, Sommernachtsfeste am polnischen Oder-Ufer, originelle Willkommenspartys, um den polnischen Studienanwärtern die Angst vor der gefürchteten Sprachprüfung zu nehmen. All das macht noch kein hochschulpolitisches Programm – aber Spaß.

„Woanders gibt es Scheindebatten über Europa, die Vergangenheit und die Zukunft. Wir leben die Zukunft bereits.“ Wenn Spotkanie-Initiator Matthias Gehrmann ins Schwärmen kommt, mag das reichlich pathetisch klingen, aber es stimmt. Der 26jährige hat den Brückenschlag nicht nur im Kopf stattfinden lassen. So wie einige andere auch, ist er ins nagelneue Studentenheim auf die polnische Seite gezogen. Hier in Slubice sind die Zimmer zwar kleiner als in Frankfurt, kosten aber auch nur halb soviel Miete. Außerdem: „Bei uns geht es einfach lockerer zu. Irgendeiner sitzt immer in der Küche.“

Irgendeiner – das können Daniel, Mateusz oder Piotr aus Polen sein oder Wolodja aus der Ukraine. Vielleicht ist es aber auch Thilo aus Eisenhüttenstadt. Mit ihnen, allesamt Spotkanie-Aktivisten, lebt Matthias in seiner Slubicer WG. Über dem ovalen Küchentisch hängt die polnische Nationalfahne, irgendwann hat jemand die scharz-rot-goldene dazugepinnt. Und dann, „das muß im Suff gewesen sein“, hingen plötzlich auch Hammer und Zirkel an der Wand.

Nationale Konflikte? Kulturelle Differenzen? Last der Vergangenheit? „Quatsch.“ Abgesehen von der ungewöhnlichen Beflaggung führt der multinationale Haufen ein stinknormales Leben mit allen Problemzonen einer Männer-WG – leerer Brotkasten, Haare in der Dusche und Putzplan mit dicken Ausrufezeichen.

Ein paar Türen weiter wohnt Gosia in ihrer Wohngemeinschaft. Gleich auf der ersten Andrzejki-Feier hat es zwischen ihr und Matthias „gefunkt“. Auch das beginnt langsam Alltag zu werden bei der deutsch-polnischen Annäherung, die Zweierbeziehung. Eine deutsch-polnische Studentenehe hat die Viadrina immerhin schon gestiftet.

Freitag abend – eines der vielen Zusammentreffen auf der Brücke über der Oder mit lautem Hallo: Mateusz passiert die Grenze Richtung Polen, er will nach Hause. Mitbewohner Matthias geht gerade den umgekehrten Weg, nach Frankfurt. Dort finden deutsch-polnische Theatertage statt. Eine Gruppe aus Zielona Gora spielt, in polnischer Sprache. Matthias wird den Text nicht verstehen, macht nichts. Am Ende der Vorstellung grinst er, irgendwie zufrieden: „Die polnischen Zuschauer haben das Stück auch nicht kapiert.“