Der Krücken-Gipfel

Was waren das für gute alte Zeiten! In den gemütlichen siebziger und achtziger Jahren hatten die sowjetisch- amerikanischen Gipfeltreffen noch ihre feste und vertraute Tagesordnung.

Erstens: Hereintragen des Generalsekretärs des ZK der KPdSU. Zweitens: Anschließen des Herzschrittmachers. Drittens: den Generalsekretär durch einen kleinen Aperitif zu ersten Sprechversuchen animieren. Viertens: Simulieren eines zwanglosen Gesprächs mit dem amerikanischen Präsidenten, dabei im Kontrollraum unauffällig die Betriebsbereitschaft der Großraumbatterien im Herzschrittmacher überwachen.

Dann kam aus heiterem Himmel Gorbatschow. Systeme lösten sich auf, die Sowjetunion ging unter, alles wurde gesund. Russische und amerikanische Diplomatie hatten mit unvorhersehbaren Situationen zu kämpfen. Die Geschichte war wieder offen.

Jetzt kehrt plötzlich die alte Vertrautheit zurück. Die Gipfeldiplomatie geht wieder an Krücken. Im Zentrum steht nicht die Nato-Osterweiterung, sondern der Leibarzt. Bill Clinton kommt nach seinem nächtlichen Treppensturz in Florida im Rollstuhl nach Helsinki. Nicht der russische Präsident muß geschont werden, sondern Clintons frisch operiertes rechtes Bein. Boris Jelzins Kondition war nach seiner Herzoperation und der anschließenden Lungenentzündung ohnehin so schlecht, daß er nicht mehr bis Washington kam. Deshalb wurde der Gipfel kurzerhand nach Helsinki verlegt. Dem finnischen Gesundheitswesen vertrauen immerhin fünf Millionen Finnen – wenn das man nichts heißt.

Aus der Geschichte wissen wir, daß die Momente, in denen die Medizin über die Politik triumphiert, historische Zäsuren darstellen. 1961 fuhr John F. Kennedy mit Rückenschmerzen und unter dem Einfluß von Schmerzmitteln zum Gipfel mit Chrustschow nach Wien. Zwei Monate später wurde die Berliner Mauer gebaut. Ende der 70er Jahre sprach der senile Leonid Breschnew den deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt in Bonn immerzu mit „Herr Brandt“ an. Kurz darauf stationierte der Westen seine Pershing- Raketen in der Bundesrepublik. Ein falsches Wort von Jelzin, und die Nato rückt bis Peking vor. Jens König