Streit jetzt. Versöhnung im Mai?

■ Das Gipfeltreffen zwischen Bill Clinton und Boris Jelzin über die Nato-Osterweiterung wird keinen Durchbruch bringen. Beide haben gute Gründe, die Einigung zu verzögern Aus Helsinki Andreas Zumach

Streit jetzt. Versöhnung im Mai?

Wenn Bill Clinton und Boris Jelzin heute abend im Landhaus des finnischen Präsidenten zu Abend essen, wird das Tischgespräch wohl in „offener und herzlicher Atmosphäre“ stattfinden. Die diplomatische Floskel steht für hartes Tauziehen um die Nato- Osterweiterung, das Hauptthema des Gipfeltreffens der beiden Präsidenten. Im Vorfeld ließen beide Regierungen gar offene Differenzen, womöglich eine Konfrontation erwarten. Die Nato-Ausweitung sei ein „schwerer Fehler“, bekräftigte der russische Präsident am Montag. Ähnlich äußerte sich einen Tag später sein Außenminister Primakow in Washington nach Gesprächen mit Clinton, US-Verteidigungsminister William Cohen und Außenministerin Madeleine Albright. Die gebürtige Tschechin hingegen sieht die Nato-Osterweiterung trotz der Widerstände aus Moskau voll im Zeitplan und „auf Kurs“. „Weder die Gerechtigkeit noch die Geschichte“ erlaubten, daß „die Nato die Rechte der mitteleuropäischen Staaten verschenkt“.

Doch kennzeichnen diese kontroversen Äußerungen den tatsächlichen Verhandlungsstand zwischen beiden Seiten? Oder sind sie nur ein Rauchvorhang, der von beiden Seiten aus taktischen Gründen aufgezogen wird? Tatsache ist jedenfalls, daß die seit Monaten geführten intensiven Gespräche zwischen den USA beziehungsweise der Nato und Rußland über die Bedingungen für eine Osterweiterung der westlichen Militärallianz sehr viel weiter gediehen sind, als die öffentlichen Stellungnahmen vermuten lassen.

Eckpfeiler des sich abzeichnenden Kompromißpakets sind zum einen neue Rüstungskontrollschritte. Weitgehende Einigkeit besteht über eine neue Verhandlungsrunde im Rahmen der Wiener „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (OSZE) zur Anpassung des 1990 noch zwischen Nato und Warschauer Pakt vereinbarten Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa (VKSE) an die seitdem erheblich veränderte Lage zwischen Atlantik und Ural. Washington und Moskau planen ein Abkommen zur Reduzierung atomarer Sprengköpfe über die bisherigen Verträge START-1 und START-2 hinaus. Voraussetzung hierfür ist allerdings die derzeit noch nicht gesicherte Ratifizierung von START-2 durch die russische Duma. Jüngste Überlegungen zielen darauf ab, auch den Abbau oder gar die völlige Abschaffung taktischer Atomwaffen zum Gegenstand künftiger Verhandlungen zu machen.

Mit einem entsprechenden Vertrag ließe sich zugleich das bislang noch ungelöste Problem einer etwaigen Stationierung taktischer Atomwaffen der Nato auf dem Territorium neuer osteuropäischer Mitgliedsstaaten elegant aus der Welt schaffen. Rußland verlangt einen endgütigen, völkerrechtlich verbindlichen Stationierungsverzicht. Die Nato ist laut Albright jedoch nur zu der Erklärung bereit, weil sie derzeit „keinen Plan, keine Absicht und keinen Grund zur Atomwaffenstationierung in neuen Mitgliedsstaaten“ habe.

Auch für die geplante „Sicherheitscharta“ zwischen Rußland und der Nato besteht Moskau auf „völkerrechtlicher Verbindlichkeit“ – das heißt: Ratifizierung durch die 16-Nato-Parlamente und die Duma – sowie auf einem Abschluß spätestens zum Madrider Nato-Gipfel Anfang Juli. In Madrid wollen die 16 Staats- und Regierungschefs der westlichen Militärallianz die osteuropäischen Kandidaten für eine erste Aufnahmerunde verkünden. In der Frage des Status der Charta hat sich die Nato in den letzten Wochen bereits ein Stück bewegt von „unverbindlich“ zu „verbindlich“. Und obwohl offiziell beteuert wird, zwischen der Aufnahme erster neuer Mitglieder und der Charta bestehe „kein Junktim“ und man lasse sich von Rußland „nicht unter Zeitdruck setzen“, bemüht sich die Nato hinter den Kulissen intensiv um die Fertigstellung einer Vereinbarung mit Moskau bis zum Madrider Gipfel.

Als Kompensationsmasse für ein Ja Moskaus zur Nato-Osterweiterung gilt auch Rußlands Aufnahme in drei Wirtschaftsorganisationen, die bislang von westlichen Industriestaaten dominiert wurden oder in denen diese bisher völlig unter sich sind. Am einfachsten wäre ein Beitritt Rußlands zur Welthandelsorganisation (WTO). Problematischer ist die Mitgliedschaft im „Pariser Club“, in dem westliche Staaten mit Ländern des Südens Vereinbarungen zur Schuldenrückzahlung treffen. Moskau strebt die Anerkennung und Rückzahlung ausstehender Schulden aus Zeiten der Sowjetunion in Höhe von 125 bis 150 Milliarden US-Dollar an. Diese Summe gilt bei westlichen Regierungen jedoch als völlig unakzeptabel. Etwas mehr Spielraum besteht bei Moskaus Wunsch nach Mitgliedschaft in der Gruppe der sieben Industrienationen (G7). Eine Aufwertung der Rolle Rußlands in diesem exklusiven Club könnte anläßlich des nächsten G-7-Treffens im Juni in Denver geschehen.

Welche konkreten Fortschritte Jelzin und Clinton bis morgen abend auch immer erzielen mögen: Beide haben kein Interesse, in Helsinki bereits einen Durchbruch oder gar die endgültige Einigung über die Nato-Osterweiterung zu verkünden. Jelzin kann die Nato- Staaten zu weiterem Entgegenkommen bewegen, wenn das Gipfeltreffen in Uneinigkeit endet. Und der russische Präsident muß bei den kompromißlosen Nato- Gegnern in der Duma den Eindruck zähen Widerstands gegen die Osterweiterung erwecken.

Clinton, wegen seiner Wahlkampfspendenaffären innenpolitisch unter Druck, käme es zwar gelegen, wenn er einen außenpolitischen Erfolg mitbringen könnte. Doch die Nato ist darauf angewiesen, daß Moskau den Widerstand möglichst bis kurz vor dem Madrider Nato-Gipfel aufrechterhält. Denn nur dieser Widerstand liefert den Nato-Staaten einen Grund, die große Mehrheit der inzwischen 13 beitrittswilligen osteuropäischen Länder auf eine zweite Aufnahmerunde zu vertrösten, von der niemand weiß, ob sie jemals stattfinden wird. Die Nato hat keine schlüssigen Kriterien, wonach einige Beitrittskandidaten jetzt, andere erst später oder gar nicht aufgenommen werden sollen. Am wichtigsten ist Moskaus Widerspruch dabei für die Argumentation der Nato gegenüber den drei baltischen Staaten.

Unter diesen Umständen dürfte eine Einigung über die Nato-Osterweiterung frühestens verkündet werden, wenn sich Jelzin und Clinton im Mai zeitgleich in Baden-Baden und Kopenhagen aufhalten und möglicherweise erneut in Amsterdam zusammenkommen. Dort trifft Clinton die Europäische Union. Gelegenheit böte auch der G-7-Gipfel im Juni in Denver. Und noch immer in der Diskussion ist ein Fünfertreffen der Regierungschefs aus den USA, Rußland, Großbritannien, Frankreich und Deutschland, auf dem dann kurz vor dem Madrider Nato- Gipfel alles klargemacht werden könnte.