Im Blockhaus der Triebe

Die 69. Whitney Biennial in New York legt Wert auf Pluralismus: Das „Andere“ – gehäkelte Kuba-Landkarten, Szenen aus der schwarzen Sklavenvergangenheit, Frauen-Mondzyklen – hat sich durchgesetzt, egal ob high oder low  ■ Von Harald Fricke

Auf dem Plakat in der U-Bahn stehen sie einfach bloß da, lächeln und winken. Der Rest ist ein langer Traum aus der Kindheit: Krümelmonster, Grobi, Big Bird und Ernie & Bert sind die Helden des Sesamstraßen-Musicals „Laßt uns Freunde sein“, das seit drei Wochen ausverkauft am Broadway läuft. Immerhin hat sich die New York Transport Authority als Sponsor für die Sache einspannen lassen – zur Eintrittskarte bekommt man eine Metrocard gratis.

Das Stück über die Multikulti- Community aus Plüsch und Pelz ist Teil der großen Maschinerie, die einen derzeit in den USA mächtig zurück in die siebziger Jahre holt: In den Kinos stehen die Leute für „Star Wars“-Karten Schlange, der gute alte Rollschuh hat die plumpen Inline-Skates wieder abgelöst; aus dem Radio klackert der Studio-54-Sound des NuYorican-Soul von Masters at Work, und die Regale bei Barnes & Noble sind mit Bestsellern über Ufos und Esoterik gefüllt. Die Postmoderne ist vorbei, willkommen im Zeitalter des Wassermanns.

Auch in der Kunst sind die Bilder wieder bunt und sehr erfolgreich. Als Lisa Phillips und Louise Neri vor zwei Jahren mit der Vorbereitung zur 1997er Whitney Biennial anfingen, wußten die meisten Galerien nicht, wovon sie ihre Miete bezahlen sollten. Man stellte kontextbezogene Arbeiten aus, politischer Aktivismus zählte viel, und verkaufen ließ sich nur wenig. Inzwischen hat sich der Markt erholt, und selbst für die neomarxistisch konzipierten Industrie-Fotostrecken eines Allen Sekula oder für Sue Williams rotzig gemalte Geschlechterkampfszenen finden sich Sammler und Museen. Abject Art und Political Correctness, beides Schimpfwörter der umstrittenenen Whitney-Ausstellung von 1993, gehören jetzt fest zum System: Nan Goldin zeigt ihre Transvestiten-Portraits bei der gleichen Galerie, die mit Frank Stella arbeitet; und Zoe Leonhard wird mit ihren engagierten Lesbendokumentationen von derselben Galerie vertreten, die Andres Serranos prahlerische Hardcore-Sex-Fotos ausstellt.

Neu sind solche Umarmungen von Außenseiterpositionen durch den Mainstream nicht – aber was kommt danach? hatte man sich in New York vor der Eröffnung der wichtigsten Überblicksschau zeitgenössischer amerikanischer Kunst gefragt. Außer hübsch gemachten Alltagsmythologien ist den beiden Kuratorinnen nicht eben viel als Themenschwerpunkt der 69. Biennial eingefallen. Das Andere – egal ob high oder low, Körper oder Internet – ist durchgesetzt: Wer weiter nach Anwendungsmöglichkeiten für seinen Dekonstruktivismus sucht, braucht bloß mit der Fernbedienung durch das TV-Programm zu zappen, schreibt Lisa Phillips in der Katalogeinführung. Und auch für Louise Neri reicht es völlig aus, sich „auf das poetische Spiel mit den Identitäten“ einzulassen, denn die Politik finde eh woanders statt.

Diesen Rückzug auf konventionelle Geschichten und Erinnerungswelten merkt man der Ausstellung deutlich an. Jugend bastelt: Der Kalifornier Jason Rhoades hat einen Saal obsessiv mit Handwerksschrott aus dem Teleshopping-Angebot vollgemüllt, im Hintergrund dudelt Car- Wash-Funk, ab und zu nebelt eine Trockeneismaschine das Environment ein, bei dem sich zwischen Wahnsinn und Entertainment nicht mehr trennen läßt. Zwei Stockwerke tiefer hat der 20 Jahre ältere, ebenfalls von der Westküste stammende Paul McCarthy sich ein vergleichbar hermetisches Blockhaus der Triebe eingerichtet. Dazu zeigen drei Videoprojektionen eine sorgfältig dokumentierte Performance, bei der McCarthy, als Weihnachtsmann verkleidet, mit zwei Gehilfen in Pinocchio- Kostümen durch literweise Ahornsirup robbt. Das Ganze endet als befreite Orgie in einem kackbraunen Kasperletheater, dessen Überreste unangenehm riechen.

Tatsächlich wirken solche bemühten Übertretungsrituale mehr wie ein Angebot an Europa, zumal Rhoades' oder McCarthys Arbeiten vor der Biennial bereits in europäischen Kunstvereinen zu sehen waren. Und auch der hohe Anteil an jüngeren KünstlerInnen, auf den die New Yorker Ausstellungsmacherinnen besonderen Wert legen, hat etwas mit der Konkurrenz aus England zu tun – McCarthys Holzhütte sieht den neuen Installationen der Wilson-Schwestern verblüffend ähnlich. Überhaupt wird die britische Art, den Alltag in Trash, Pop und Psychedelia zu übersetzen, in Amerika hochgeschätzt. Damien Hirst wurde gar bei Larry Gagosian ausgestellt, der sonst mit den Malervätern des abstrakten Expressionismus arbeitet. Das macht natürlich auf die Next Generation der New Yorker Kunst gewaltig Eindruck: Jennifer Pastors „Four Season“-Zyklus besteht aus mutierten Polyester-Motten und überdimensionalem Mais, während Glen Seator das Büro des Whitney-Direktors nachgebaut und in Schräglage versetzt hat. Nun guckt man zur Tür hinein und gerät sogleich ins Schwanken.

Vor allem aber merkt man den britischen Einfluß in der Sektion „Film/Video“, wo sich bald ein Dutzend FilmemacherInnen mit Techno, cooler Club-Kultur und Kaleidoskop-Effekten auseinandersetzt. Bei Doug Aitkens „Diamond Fear“ etwa orgelt es in der Wüste von Namibia. Doch anders als bei den meist billig produzierten Videobändern aus England legt man in Amerika sehr viel Wert auf technische Qualität, die Schnitte sind auf Hunderstelsekunden genau montiert, jedes Bildschirmflimmern ist praktisch ausgeschlossen. Auch im Bereich der Fotografie sind die Fortschritte immens: John Schabels Flugzeug- Interieurs und Zoe Leonhards fiktives Fotoalbum zu Cheryl Dunyes preisgekröntem Film „Watermelon Woman“ wirken wie grobkörnige, sepiagetönte Remakes von Filmstills aus den vierziger Jahren. Ohne die Special Effects der digitalen Bildbearbeitung wären solche „authentischen“ Erinnerungsbilder nicht zu haben.

Die älteren Kämpfe eines Hans Haacke oder der Guerilla-Girls mit der Institution sind indessen ausgefochten. Der Anteil von Frauen liegt bei soliden 30 Prozent, immer noch unter dem Durchschnitt zwar, aber doch weit höher, als daß Frauenrechtlerinnen deshalb Sturm laufen würden – sonst gäbe es vermutlich Probleme mit den ebenfalls fest integrierten ethnischen Gruppen. Nun hängen die ganz persönlichen Mondzyklus- Zeichnungen von Annette Lawrence also neben Antonio Martorells gehäkelten Kuba-Landkarten, mit denen der Puertoricaner den Postkolonialismus in der Karibik geißelt. Nicht von ungefähr gilt die erst 27jährige afroamerikanische Malerin Kara Walker nach allen Richtungen als konsensfähig und ist entsprechend der neue Star der diesjährigen Biennale: Ihre als Scherenschnitte auf die Wand geklebten Murals über Gewalt gegen die schwarze Bevölkerung in den Südstaaten des letzten Jahrhunderts sind eine Art Weiterführung von John Singletons „Rosewood“- Verfilmung – actionreich, aber mit durchaus konservativen Erzählmitteln gestaltet. Die äußerst wirkungsvolle Übersetzung solcher Legenden korrespondiert mit dem Forschungsstand der cultural studies, die jetzt statt als Kontextkunst à la Renée Green in Splatterform wiederkehren. „New Historicism“ von unten eben.

Merkwürdig nur, wie sehr die Arbeiten auf die Glaubwürdigkeit der Erinnerungen anderer Leute vertrauen. Man hat den Eindruck, als wollten die KünstlerInnen ihr eigenes, meist komplett vom Betrieb bestimmtes Leben ausklammern. In New York redet man nicht gern über Produktionsbedingungen. Es mag an ihrem europäischen Naturell liegen, daß ausgerechnet die Skulpturen der 85jährigen Louise Bourgeois und Ilya Kabakovs Installation „Treatment with memories“ einen Teil der Faszination aus dem biographischen Material ziehen. Bourgeois hat die Seidenstrümpfe und Unterröcke ihrer Jugendjahre liebevoll zu Torsopuppen vernäht, die ebenso zärtlich wie konkret mit dem Verfall spielen, während einen die sexuelle Kraft der surrealen Objekte noch immer förmlich anspringt. Und Kabakov hat eine imaginäre Krankenhausstation nachgebildet, in der vereinsamte alte Menschen behandelt werden sollen. Dort zeigt man ihnen Familienfotos, damit ihr Erinnerungsvermögen nicht ganz verkümmert. Dazu laufen nun Protokolle vom Band, aus denen sich allmählich ein Panorama des russischen Alltags herausschält. Natürlich mischt Kabakov seine eigene Lebensgeschichte als ironisches Begleitwerk unter das kollektive Gedächtnis – schließlich war der Künstler in der Sowjetgesellschaft gut aufgehoben. Vielleicht hat sich Kabakov gerade deswegen vor zwei Jahren in Amerika einbürgern lassen.

„The 69th Whitney Biennial“, bis 1. Juni, New York. Katalog 35 $