Britanniens Billiglohnregion

Nordostengland, das britische „Ruhrgebiet“, ist trotz der Milliardeninvestitionen ausländischer Konzerne noch immer eine Krisenregion  ■  Aus Newcastle Toralf Staud

„Goldmine zu verkaufen“ verkünden riesige Werbetafeln an der A 19 im Nordwesten von Newcastle. Im Hadrian Business Park direkt dahinter sollen Investoren ihren Claim abstecken, und das Angebot ist wirklich Gold wert: Das Gebiet ist von der Regierung zur „Enterprise Zone“ erklärt worden, wer sich hier ansiedelt, braucht zehn Jahre lang keine Gewerbesteuer zahlen. Saftige Subventionen gibt's außerdem.

Der größte Goldschürfer hier im englischen Nordosten ist Siemens. Für 1,1 Milliarden Pfund (drei Milliarden Mark) baut der deutsche Elektronikkonzern hier eine riesige Chipfabrik. Im Sommer wird die Produktion anlaufen, 1.500 neue Jobs sollen entstehen.

Siemens ist nur einer von vielen ausländischen Großinvestoren in der krisengeschüttelten Region. Der japanische Konzern Fujitsu hat eine Chipfabrik mit 400 Arbeitsplätzen schon fertig, LG und Samsung aus Südkorea lassen von 500 beziehungsweise 1.000 Leuten Mikrowellen, Fernseher und Computermonitore zusammenbauen. Nissan, 1984 als erster großer asiatischer Investor in die Gegend gekommen, schuf über 4.000 Jobs.

„Nordengland ist die Region Europas mit der größten Dichte japanischer Firmen“, verkündet George Russell, Chef der Wirtschaftsförderungsagentur Northern Development Company (NDC), stolz. In den vergangenen zehn Jahren investierten 432 ausländische Firmen umgerechnet 20 Milliarden Mark. Die Arbeitslosenquote halbierte sich in diesem Zeitraum. Dennoch ist sie mit 8,9 Prozent immer noch die höchste des britischen Festlandes.

Einst war der Nordosten Englands die Wiege der britischen Industrie. Die Kohlegruben, Stahlwerke und Werften beschäftigten zeitweise ein Drittel der englischen Arbeiterschaft. Ihren Höhepunkt erlebte die Kohleförderung 1913 – seitdem ist das „englische Ruhrgebiet“ im Niedergang. 1993 waren nur noch 0,7 Prozent der männlichen Arbeiter im Bergbau beschäftigt und noch 1,4 Prozent auf den Werften.

Mitte der achtziger Jahre setzte dann geradezu ein Investitionsboom aus dem Ausland ein. Auf der Suche nach einem Standbein im europäischen Binnenmarkt bot die Region südostasiatischen Firmen die besten Konditionen. Die ehedem streitbaren Gewerkschaften sind gezähmt, die ohnehin niedrigen britischen Arbeitskosten – heute knapp halb so hoch wie in Deutschland – werden in Nordengland noch weit unterboten. 315 Pfund (knapp 850 Mark) ist der durchschnittliche Wochenlohn, für Fließbandarbeit gibt es oft weniger als zehn Mark die Stunde.

Diese Vorzüge vermarkten die 140 Wirtschaftsförderer der NDC mit Auslandsbüros in Brüssel, Tokio, Osaka, Seoul, Taipeh, Chicago und San Francisco. Sie helfen bei Genehmigungsverfahren ebenso wie beim Griff in die Subventionstöpfe. Siemens soll 50 Millionen Pfund bekommen haben, Nissan „einige hundert“ Millionen.

Außer der zentralen NDC gibt es diverse lokale Wirtschaftsagenturen. So kümmern sich in Newcastle seit zehn Jahren 56 Angestellte allein um die Neunutzung von 30 Meilen Uferstreifen an Tyne und Wear. Eine Milliarde Mark wurden bisher ausgegeben, ehemalige Kohleförder- und Werftanlagen abgerissen, verseuchte Böden gereinigt. Auf den Flächen entstanden hübsche Wohnviertel, für ehemalige Kohlekumpel meist zu teuer, vor allem aber smarte Bürogebäude. Deren typische Nutzer sind Call-Centre. So hat der Automobilclub AA sein telefonisches Servicezentrum in Newcastle angesiedelt, 460 British- Airways-Angestellte verkaufen von hier aus Flüge, die Londoner Elektrizitätsgesellschaft wird künftig alle Kundenanrufe 450 Kilometer weiter nördlich bearbeiten lassen. Allein dieses Projekt schafft 1.200 Arbeitsplätze.

„Die meisten Stellen sind für Frauen, relativ niedrig bezahlt und nur Teilzeit“, merkt Peter Shields von der Tyne and Wear Development Corporation an. Auch an den Fließbändern bei Samsung und Fujitsu sitzen meist Frauen. Im Newcastler Arbeiterviertel North Shields sind viermal mehr Männer als Frauen arbeitslos gemeldet. Ganze Straßenzüge der backsteinernen Reihenhäuschen sind dort verwahrlost, viele Fenster vernagelt. Nirgendwo in England gibt es so viele Langzeitarbeitslose wie im Nordosten. Vor sechs Jahren entlud sich der Frust in tagelangen, gewalttätigen Jugendkrawallen.

John Tomaney vom Zentrum für Stadt- und Regionalentwicklung der Universität Newcastle hat für die Wirtschaftsförderer kaum gute Worte übrig. „Es gibt bessere Strategien, als nur zu hoffen, daß bald die nächste japanische Firma kommt.“ Statt die zusammengebrochene heimische Schwerindustrie durch andere lokal ansässige Wirtschaftszweige zu ersetzen – so wie in und um London ein starker Servicesektor entstand –, sei im Nordosten mit Milliardenaufwand eine „Zweigwerk-Industrie“ geschaffen worden.

„Große internationale Firmen haben diejenigen Aktivitäten hier angesiedelt, für die niedrige Lohnkosten wichtig sind“, beschreibt er das Problem. Diese Betriebe seien fast nur „verlängerte Werkbänke“ ohne eigene Forschungsabteilungen, ohne großen Nutzen für andere Industriezweige. „Viele der ausländischen, meist US-amerikanischen Investoren aus den sechziger Jahren verschwanden während der Rezession 1979 bis 1981 wieder“, fügt Tomaney an. Auf den Schließungslisten der Konzerne hätten die Zweigstellen verständlicherweise ganz oben gestanden.

Während der nächsten großen Rezession wird das Schicksal Newcastles wohl in Tokio und Seoul entschieden werden.