Wochen-Post
: Jetzt ist hier überall Osten, oder?

■ Fremdenfeindlich, arbeitslos und zukunftsfähig. Süßlich sind nur die anderen

Tauwetter liegt in der Luft, und in Berlin atmet man die frische Luft, in der man sich so leicht verkühlt, in besonders tiefen Zügen ein. Kaum waren die Steinkohler aus den Westprovinzen mit ihren Subentionen wieder ins Paradies à la Rau-Lafontaine abgezogen, erwischte es die Stahlkocher von Krupp und Thyssen.

Hart wie Kruppstahl redet jetzt der ewige Erbe Clement: Arbeitsplätze sichern geht nur mit weiterem Arbeitsplatzabbau. Wie fließend haben sie das im Osten immer verkündet; nun wird die Lingua Treuhand auch westlich der Elbe verstanden.

Roheit scheint gut zu reisen. Kaum hatte eine Berliner Zeitung über die Gründe der offenbar endogen östlichen Fremdenfeindlichkeit eine Wochenend- beilage lang gegrübelt, schon prügelten Bundeswehrrekruten im lippischen Detmold auf alles ein, was „ausländisch“ aussah; daß sie im Osten gezogen worden wären, ist nicht überliefert. Wohl waren sie besoffen.

„Die Fakten sprechen für sich“, stand in einer süddeutschen Zeitung auf deren Berlin- Seite, „Es ist nur einfach nicht üblich in dieser Stadt, daß man eins und eins zusamenzählt.“ Gut gebrüllt, und es erklärt perfekt, warum so vieles beim so alten bleibt in der Diepgen- und Landowsky-Provinz. „Werkstatt der Einheit“, sagt der Regiermeister gern.

Das klingt nett, als lernten wir alle bei Hedwig Bollhagen das Töpfern zeitlos-schöner Schalen. Noch wird in der Werkstatt mehr zerdeppert, aber schon entsteht das Neue, das eins und eins zusammenzählt, und das mit makabrer Lust am Detail.

Das Krachen klärt den Kopf und macht klar, daß die Zeit der Ostprobleme und der Westerrungenschaften vorbei ist. Die der Westprobleme und Osterrungenschaften übrigens auch. Auf vielen Feldern ist eben jetzt überall Osten, bei der Arbeit, gegenüber den Fremden, da nutzt kein Getue nicht.

Zum Neuen gehört ein neuer Ton. Man hört ihn gelegentlich schon. Aber schärfer noch hört man, daß der alte Ton falsch geworden ist. Der wackere Erwin Teufel nimmt das Preußische Herrenhaus für den Bundesrat in Besitz und rühmt innig den Fakt, daß die Leipziger Straße nun dem Verkehr dienen darf und nicht mehr an der Mauer endet.

Eine Dame aus Lichtenberg trifft im Zug aus Hamburg eine Dame aus Jena, die ihr derartig süßlich-fremdelnd mitteilt, die Züge hielten jetzt gar schon am Bahnhof Zoo, das sei doch arg gewöhnungsbedürftig, daß auf die Provenienzfrage die Dame aus Lichtenberg schließlich lügt, sie sei „aus dem Westen“.

So sehr ist in Berlin schon überall Osten, daß man sich über die erhebt, deren Welt noch Sinn erhält durch West und Ost. Mechthild Küpper

wird fortgesetzt