Der Freiheitswille ist ungebrochen

Sechs Monate nach Kriegsende ist in Tschetscheniens Hauptstadt Grosny ein Stück Normalität zurückgekehrt. Für die Menschen ist klar: Die Zukunft des Landes liegt außerhalb Rußlands  ■ Aus Grosny Johannes Vollmer

Die rechte Spur der Straße ist unbefahrbar. An einer Hauswand prangt das Bild eines stolzen tschetschenischen Reiters. Eine Sperre aus Reifen und Fahrgestängen, eine Blechhütte, ein geöffneter Schlagbaum. Den Straßenrand säumen reiche Verkaufsstände: Brot, Fleisch, Orangen, Getränke und Flaschen mit selbstraffiniertem Benzin. Nach einer halben Stunde taucht ein tafelgroßes, zerschossenes Schild auf: Grosny.

Der erste Häuserring ist immer noch mit Sandsäcken geschützt. Hier rückte am 26. November 1994 die erste russische Panzerkolonne ein. Im Oktober-Rayon erfolgten die Angriffe von drei Seiten, die ganze Zone wurde zerstört, es gab viele Opfer. 10stöckige Hochhäuser, in denen russische Scharfschützen saßen, sind zerschossen. Ein Schutthaufen, der klägliche Rest eines 17stöckigen Hochhauses. Man zeigt uns die Hauptverwaltung der Vereinigten Stäbe (Guosch), das russische Hauptquartier, früher eine Automobilgarage. Zähnefletschende Hunde lassen von unserem Wagen nicht ab. Sie hatten während des Krieges an den auf den Straßen liegengebliebenen Leichen gefressen.

Auf dem Platz der Freiheit wächst Gestrüpp. Wir biegen in die Isir-Asirmikowa, die ehemalige Lenina ein, den Boulevard im Zentrum mit einer Fußgängerpromenade und einer Allee in der Mitte. „Das waren schöne alte Häuser hier“, sagt traurig ein Begleiter. Heute sind 90 Prozent des Zentrums zerstört. „Auch bei den schlimmsten Bombardements haben wir versucht, wie Menschen zu leben“, sagt die Kindergärtnerin Taita, die im Krieg zur Kriegsreporterin wurde. „Hunger gab es nicht. Dort fielen die Bomben, und nebenan konnte man frisches Brot bekommen. Wir hatten nie Sorge um das Essen, hatten Obst, Früchte, Fleisch, Milch.“ Viele Lebensmittel kamen von Exil-tschetschenen und Hilfsorganisationen über die Straße aus Inguschetien angeliefert. An den Posten standen damals einfache russische Soldaten, die nichts zu essen hatten und handelten: das Passieren eines Wagens mit Lebensmitteln kostete einen Korb mit einem Kilo Zucker, zwei Kilo Trockenmilch, fünf Kilo Reis, vier Paketen Spaghetti, zwei Kilo Mehl und Tee.

Das Stadtzentrum von Grosny beherrscht ein großes planiertes Terrain mit einigen Schutthaufen, Betontrümmern und einem Eisenrost, der in den Himmel ragt. Das ist alles, was vom Präsidentenpalast übrigblieb, der von den russischen Besetzern gesprengt wurde. Doch der Versuch, durch die Sprengung des Symbols des Unabhängigkeitskampfes auch dessen Geist zu töten, mißlang gründlich.

Mit Grosny, dem alten russischen Namen für die Zaren- Schreckensfestung und das von Rußland niedergehaltende Tschetschenien, ist nur die halbe Wahrheit beschrieben. Die andere Wahrheit heißt Dschochar-Stadt, umbenannt nach dem im letzten April getöteten tschetschenischen Präsidenten Dschochar Dudajew.

Gleich an der Ecke der ehemaligen Straße des 1. Mai steht ein Denkmal für die unter Stalin Deportierten. Dudajew begann das Projekt noch vor dem Krieg, im Februar 1994 wurde es feierlich eingeweiht: eine Art Friedhof mit alten Grabsteinen, die von verlassenen Friedhöfen im ganzen Land zusammengetragen wurden.

Aus aufgeschichteten Grabsteinen ragt in der Mitte entschlossen eine silberne Faust, die einen silbernen Dolch in den Himmel streckt. Dahinter, auf einer großflächigen Backsteinmauer, prangt auf tschetschenisch die Warnung: „Wir vergessen nicht, wir verzeihen nicht, wir geben nicht auf.“ Russische Panzer schossen während der Besetzung auf das Denkmal, doch nun ist es renoviert und glänzt wie neu. Krähen steigen auf, überfliegen diesen Wettstreit zwischen Ruinen und dem trotzig-siegesgewissen Areal und verschwinden in den grauen Himmel.

Die Mahnung des Denkmals scheint endgültig, liegt wie Fluch und Hoffnung zugleich über dem Land. „Sehen Sie dieses barbarische Rußland“, wird Maja Schewchalowa, die im Krieg viele Einwohner und Flüchtlinge interviewte, später vor zerstörten Häusern ausrufen. „Das war Genozid. Das war Terrorismus in Staatsform, was sie gemacht haben. Es gibt kein Verzeihen von den Tschetschenen – niemals. Die wollten, daß wir ein Teil Rußlands bleiben. Aber sagen Sie: Kann der Mensch mit seinem Mörder unter einem Dach leben?“

Der tschetschenische Wille ist ungebrochen, und nach dem letzten russischen Eroberungsfeldzug noch stärker geworden. „Rußland wollte unsere Geschichte und unsere Kultur, uns moralisch wie materiell vernichten. Nichts davon ist geschehen. Denn wir haben einen starken Geist“, sagt Maja. Das historische Bewußtsein über die russischen Feldzüge und Knechtungen ist präsent. „Die wollen uns vernichten, alle 50 Jahre gibt es solch einen Genozid.“

Und doch ist Maja nicht die menschliche Verkörperung der scharfen Unerbittlichkeit des Denkmals, sondern eine mitfühlende Frau. Aber sie hat zuviel gesehen: wie russische Einheiten Menschen hingerichtet und verbrannt haben. „Ich habe in irgendwelchen Gruben diese Menschen entdeckt, auch Kinderleichen dort gefunden. Das ist nur ein kleiner Teil, was sie hier getan haben. Im August haben sie bei dem letzten Sturm Häuser ausgesucht, in denen Kinder und Frauen lebten.“

Und dann zeigt Taita, die Reporterin, diese Fotos, eingeheftet in ein Schreckensalbum des Krieges: verstümmelte und verkohlte Leichen, schmerzverzerrte Gesichter, Arme und Hände in Abwehrhaltung. Eine schwangere, mißhandelte Frau aus einem Massengrab, in dem 1.300 Leichen gefunden wurden. Ein etwa 16jähriger Junge, im März 1996 durch einen Helikopterangriff getötet, ein Bewohner des Dorfes Berioska, der trotz weißer Fahne und der Flüchtlinge, die er anführte, am russischen Checkpoint bei Grosny getötet wurde.

Auch die Videofilme dokumentieren das Grauen: Der Luftangriff der russischen Armee auf das Dorf Machkati am 9. Juli 1996, sechs Tage nach dem von aller Welt gefeierten Wahlsieg Jelzins. Bilder aus Gechi bei Urus-Martan, nach dem Angriff. Ein älterer Dorfbewohner sagt vor der Kamera: „Was ist das für ein Staat, der meine Stimme haben will, wenn er gegen mich kämpft? 70 Jahre habe ich mich abgearbeitet, dann kommen sie und bomben mich hier aus.“ Ein anderer sagt: „Hier werden nicht amerikanische oder italienische Waffen verwendet, sondern russische. Dafür bekommt Rußland Kredite, um Häuser, Schulen und Krankenhäuser zu zerstören.“

Andere Fotos zeigen Kundgebungen in Grosny. Auf einem Transparent steht: „Die Mörder Tschetscheniens: Nikolaus I., Josef Stalin, Boris Jelzin.“ Aber es gibt auch Bilder der Hoffnung: Eine Mutter lacht ihr Neugeborenes an, mitten in den Trümmern.

„Schmerz der Frauen“ heißt die erste internationale Konferenz in der zerstörten Stadt, veranstaltet vom Friedenszentrum und dem Verband der tschetschenischen Frauen. Vor einer weißen Fläche mit einem Dudajew-Plakat und der grünweißrot gestreiften Fahne haben die zwölf Frauen und Männer auf dem Podium Platz genommen: Vertreterinnen der Union der nordkaukasischen Frauen und der russischen Soldatenmütter, Repräsentanten der tschetschenischen Regierung und Mitglieder der russischen Duma, OSZE-Missions-Leiter Tim Guldimann, Chris Hunter vom Friedenszentrum.

Um Vernunft, Geduld und Vergebung für die Verstorbenen beten die Muslime zu Beginn. Lautstark verlangen die Zuhörer, nach den Redebeiträgen nicht Beifall zu klatschen, sondern „Allah akbar“ zu rufen. Eine Muslimin zieht den Vergleich mit der Französischen Revolution, in der die Frauen ihren Männern im Kampf halfen. Die muslimische Frau sei normalerweise zwar im Haus und für die Kinder da. Doch im Krieg stehe auch sie auf und tue dasselbe wie die Frauen in der Französischen Revolution.

Der tschetschenische Parlamentsvorsitzende Ahjad Idigow grenzt sich vom islamischen Fundamentalismus ab: „Man kann uns nicht Sprache, Kultur und Tradition nehmen“, sagt Idigow. „Darum kämpfen wir. Wir wollen keinen Krieg mehr mit Rußland. Aber wir wollen unabhängig sein. Wir sind jetzt unabhängig und frei. Man kann nicht die tschetschenische Seele töten. Einen freien Geist kann man nicht töten.“

Die Unabhängigkeit scheint nur noch eine Angelegenheit des politischen Aushandelns mit Rußland zu sein. „Sie sollen uns einfach in Ruhe lassen – uns schlechte Tschetschenen, Mafiosi, Banditen“, verlangt Maja Schewchalowa. „Dann werden wir sehen, wie wir leben. Unser Volk ist fleißig. Es wird schwer sein, aber wir werden überleben.“

Die Realität gibt ihr recht. Auf dem Basar kann man alles kaufen. Überall stehen Buden, nicht nur hier in der Innenstadt, auch an Ausfallstraßen, in den Dörfern. Es gibt Brote, Eier, Fleisch, Obst, Cola, Fanta, Schokolade, Zigaretten, gebratene Fleischspieße. Das Brot kostet 2.500 Rubel (rund 80 Pfenning), ein Kilo Fleisch 10.000 Rubel. „5.000 weniger als in Inguschetien“, sagt Taita stolz.

Am Abend machen die beleuchteten Straßenstände einen anheimelnden Eindruck. Auch die Benzinverteilung ist gut organisiert: Verkäufer mit Flaschen stehen am Straßenrand, ein Liter selbsthergestelltes Benzin kostet 1.000 Rubel, das im Werk raffinierte 2.000. Die Tankstellen sind meist zerstört, doch an den Ausfallstraßen stehen Tankwagen. Trotz der Kriminalität, der letzten Entführungen, der Zerstörungen: Ein Stück Normalität scheint zurückgekehrt.

Auf der Asirmikowa herrscht wochentags reger Verkehr, viele fahren ohne Nummernschilder. Auf der schmalen Allee in der Mitte promenieren junge Frauen in Pelzmänteln. Kleine blau- oder gelbweiße Busse sind gut besetzt, 1.000 Rubel kostet die Fahrkarte in den privaten, 500 in den staatlichen. Deren Fahrer erhalten kein staatliches Gehalt, sondern finanzieren vom Fahrgeld der Passagiere direkt ihren Lebensunterhalt und zahlen das Benzin.

„Wie ein Wunder – fast das einzige Haus, das stehengeblieben ist“, sagt Ruslan Temurkajew von der Zeitung Itschkerija und zeigt auf den Kulturpalast, ein klassizistisches, prächtiges Theaterhaus. Hier fand kürzlich die Inauguration des tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow statt. Heute abend tritt hier die Tanzgruppe Wainach auf. „Den Islam stärken und die Freiheit bewahren“, lauten im Saal die Inschriften in tschetschenischer und in russischer Sprache. „Freiheit, Gleichheit, Eintracht“ heißt es in Anklang an die Französische Revolution. Vorne prangt das tschetschenische Emblem und Symbol der Freiheit: der schwarze Wolf.

Etwa zwanzig Männer in Papacha-Mützen, olivgrünen Gewändern und Säbeln ziehen herein, Frauen in festlichroten Gewändern folgen. Tanzszenen, die Schritte sind abwechselnd gemessen und dann wieder rhythmisch- blitzschnell, ausgelassen, von einer atemberaubender Geschwindigkeit. Pantomimen wechseln mit komischen Dorfszenen, dann folgt ein mittelalterlicher Kampf mit Schwert und Schild.

Eine Frau in rotem Gewand tritt dazwischen, wirft ihr weißes Tuch. Das ist eine alte tschetschenische Tradition: Wenn eine Frau ihr Tuch zwischen die Feinde wirft, ist der Kampf zu Ende. Frenetischer Beifall. Nach seinem Auftritt sagt der blinde Sänger Walid Dagajew: „Dieses Ensemble ist ein Spiegel unseres Volkes. Es bewegt Seele und Gedanken. Wir sollten es bewahren.“