Nato-Charta nicht sicher

Nach dem Präsidentengipfel warnen russische Delegierte vor „voreiligem Optimismus“  ■ Aus Helsinki Andreas Zumach

Die Präsidenten Bill Clinton und Boris Jelzin bemühten sich sichtlich, Positives zu vermelden. In ihrer gemeinsamen Erklärung zum Abschluß des Gipfeltreffens in Helsinki und ihren Äußerungen auf einer Pressekonferenz am Freitag vermittelten sie den Eindruck, es habe eine Annäherung über „Inhalt und Charakter“ einer Charta zur Überbrückung der Differenzen über die Nato-Osterweiterung und Fortschritte bei der atomaren Rüstungskontrolle gegeben. Doch hohe Mitglieder der russischen Delegation warnten inzwischen vor „voreiligem Optimismus“.

Ein russisches Delegationsmitglied, das namentlich nicht genannt werden wollte, sagte: „Weiterhin völlig kontrovers sind die Themen, die weder in dem gemeinsamen Abschlußdokument noch auf der Pressekonferenz erwähnt wurden, oder bei denen einer der beiden Präsidenten mit seinen mündlichen Äußerungen über den Text des Dokuments hinausging.“

Als größter Stolperstein könnte sich die Frage einer Nato-Mitgliedschaft der bereits um Aufnahme begehrenden baltischen Staaten oder anderer Ex-Republiken der ehemaligen Sowjetunion erweisen. „Ein Nato-Betritt der baltischen Staaten würde die gesamten Beziehungen zwischen Rußland und der Nato zerstören“, betonte Außenminister Jewgeni Primakow am Samstag vor Journalisten. Er soll gemeinsam mit Nato-Generalsekretär Javier Solana eine Charta fertigstellen, die die künftigen Beziehungen zwischen Rußland und der Allianz regelt. Die Charta soll spätestens beim Madrider Nato- Gipfel Anfang Juli von den Regierungschefs unterschrieben werden.

Nach Auskunft russischer Delegationsmitglieder lehnte Clinton in Helsinki nicht nur Jelzins Forderung ab, in dieser Charta einen Nato-Beitritt ehemaliger Sowjetrepubliken ausdrücklich für alle Zeiten oder wenigstens innerhalb einer bestimmten Frist auszuschließen. Der US-Präsident sei – zumindest zum jetzigen Zeitpunkt – auch nicht bereit gewesen, Moskau unterhalb der Ebene einer offiziellen Chartaklausel entsprechende politische Zusicherungen zu machen. Auf der Pressekonferenz vermieden die beiden Präsidenten jegliche Äußerung zu diesem Thema. Und im Abschlußdokument findet sich lediglich ein Verweis auf die beim Lissaboner OSZE-Gipfel im Dezember vereinbarte Formel, wonach alle OSZE-Mitgliedsstaaten das Recht haben, ihre Mitgliedschaft in Sicherheitsbündnissen frei zu wählen.

Weiterhin umstritten ist, worauf die militärischen Aktivitäten der Nato in den neuen Mitgliedsstaaten in der Charta beschränkt werden sollen. Im Abschlußdokument von Helsinki ist lediglich davon die Rede, die Erklärung der Nato, sie habe „keine Absicht, keinen Plan und keinen Grund“ zur Stationierung von Atomwaffen, in die Charta aufzunehmen. Jelzins darüberhinausgehende Feststellung auf der Pressekonferenz, auch der Zuwachs an konventionellen Streitkräften in neuen Nato-Mitgliedsstaaten sowie die Nutzung militärischer Infrastruktur des ehemaligen Warschauer Paktes würden in der Charta ausgeschlossen, ist bislang kein Konsens.

Selbst wenn sich die Nato und Moskau in diesen Fragen noch einigen, könnten die starken Bedenken russischer Politiker gegen eine Osterweiterung die Absichtserklärungen zu Fortschritten bei der atomaren Rüstungskontrolle zunichte machen. Sergej Karaganow, einer der wichtigsten Berater Jelzins in Rüstungskontrollfragen, äußerte „tiefe Skepsis, daß die Duma das Start-2-Abkommen ratifizieren wird“. Mit der von den Präsidenten vereinbarten (allerdings von der Zustimmung des US- Senats abhängigen) Verlängerung der Frist für die Zerstörung von Trägersystemen russischer Atomwaffen um vier Jahre sei zwar eines der Duma-Bedenken gegen die Ratifizierung ausgeräumt. Doch Karaganow betonte, der Hauptgrund für den Widerstand in der Duma gegen das Start-2-Abkommen liege in der Nato-Osterweiterung. Von der Start-2-Ratifizierung machen die USA aber die in Helsinki im Prinzip vereinbarte Aufnahme von Verhandlungen über ein Start-3-Abkommen abhängig.