„Freiheit für alle, die hierherkommen wollten“

■ Renzo Martelli war in den Fünfzigern Berater der italienischen Regierung in Europafragen

Martelli, 87, gehörte nach dem Krieg zur „Denkerschule von Bari“, aus der auch der mehrmalige Regierungschef Aldo Moro hervorging. Er war Berater des ersten italienischen Nachkriegsministerpräsidenten Alcide De Gasperi.

taz: Professor Martelli, Ihr damaliger Chef Alcide De Gasperi gilt, auch wenn er die offizielle Gründung der EWG nicht mehr erlebt hat, als einer der „Väter Europas“. Was würde er wohl vom derzeitigen Gerangel um freie Grenzen und Abschottung halten?

Martelli: Vermutlich nicht allzu viel. Als wir damals an die Idee eines gemeinsamen Europa herangingen, verband uns einerseits die Abscheu vor jeder Art von Diktatur und zum anderen die Idee einer Freiheit für alle, die in Europa lebten oder hierherkommen wollten. Es war damals gar keine Frage, daß jeder willkommen war. Auch in den Ländern gab es kaum Bedenken gegen die beginnenden Migrationsströme. Kein Gedanke daran, daß es einmal zu einer „Festung Europa“ kommen könnte.

Dachtet Ihr Vordenker Europas damals schon an grenzfreie Gebiete, wie sie das Schengener Abkommen vorsieht?

Natürlich, aber ehrlich gesagt, wir dachten nicht, daß wir da ein eigenes Abkommen brauchen würden. Wir hofften, es würde alles so natürlich zusammenwachsen, daß die Grenzen irgendwann einfach aufhören würden zu existieren.

Wann setzte dieses andere Denken ein, das freie Grenzen eher als Bedrohung ansieht?

Da kam mehreres zusammen. Einmal der seit den 70er Jahren immer stärkere Zustrom aus Ländern, von denen wir nie gedacht hatten, daß deren Bürger in Massen nach Europa kommen wollten, etwa aus Afrika oder Asien. Dann wurde die Kriminalität zu einem immer ernster zu nehmenden Faktor. Warnungen hatte es schon in den 70er Jahren gegeben: Aufrufe, Steuerungs- und Kontrollmechanismen aufzubauen, die dann so verbessert und internationalisiert hätten werden müssen, daß offene Grenzen keine Gefahr mehr darstellen. Aber die Politik ist umgekehrt vorgegangen. Zuerst wurden offene Grenzen verfügt und erst dann nachgedacht, was das für Konsequenzen haben könnte.

Viele Europäer haben nicht nur Angst vor angeblichen Arbeitsplatzräubern oder Gangstern, sondern auch vor anderen Kulturen, die als Bedrohung gesehen werden.

Ja, und hier wird eines der ganz großen Versäumnisse der Europaplaner erkennbar. Als wir in den 50er Jahren mit „Europa“ begannen, hatten wir tatsächlich das im Sinne, was heute als multikulturelle Gesellschaft leider bei vielen schon einen negativen Beigeschmack hat: Nur durch die Vermischung unserer Völker, durch die Durchdringung der unterschiedlichen Kulturen glaubten wir künftig Kriege vermeiden zu können. Diese waren zwar im Grunde imperialistisch bestimmt, aber das Volk hatte man für diese Kriege gewinnen können, indem man nationalistische oder rassistische Gründe dafür in die Hirne peitschte. Genau das wollten wir mit einer Vermischung künftig verhindern. Doch jede Krise, die es in Europa seither gegeben hat, führte nicht zu einer weiteren Solidarität, wie wir hofften, sondern umgekehrt zu einer erneuten Einigelung, Abschottung. Zum Gedanken an eine Vertreibung all jener, die man etikettieren, brandmarken und zum Sündenbock machen kann. Und die Politiker haben wenig dafür getan, diese Tendenz zu stoppen. Interview: Werner Raith, Rom