Selbst die Wahl der Kneipe ist wichtig

Auseinandersetzungen und Einschüchterungen prägen das tägliche Leben in der heimlichen Hauptstadt der radikalen baskischen Nationalisten, seit ein Bündnis ihrer politischen Gegner das Rathaus kontrolliert  ■ Aus Hernani Reiner Wandler

„Hernani, in Freiheit leben“ steht auf dem Transparent, um das sich ein paar Dutzend Personen scharen. Die gleichnamige Gruppe hat zu einer ihrer sonntäglichen Mahnwachen gegen Gewalt im spanischen Baskenland aufgerufen. Die schweigenden Menschen – unter ihnen der Bürgermeister der 18.600-Seelen-Gemeinde unweit von San Sebastián – blicken auf die andere Seite des Rathausplatzes, wo sich ein zweites Häufchen versammelt hat. Auch sie fordern Freiheit – „Freiheit für das Baskenland“, wie Sprechchöre und das von den sieben Gemeinderäten der linksnationalistischen Herri Batasuna (HB) gehaltene Spruchband verkünden. Eine Kette von baskischen Polizisten hat sich vorsichtshalber dazwischengestellt.

„Verräter, Kollaborateure!“ müssen sich die Teilnehmer der Mahnwache von der Gruppe der Gegendemonstranten anhören, dann fliegen plötzlich die ersten Farbbeutel, rot und gelb wie die spanische Fahne. Die Polizisten knüppeln los. Das HB-Transparent geht zu Boden, einige werden festgenommen. Alles rennt panisch in die Seitengassen, verschwindet in Bars und Hauseingängen. Die Besudelten von der Mahnwache applaudieren, bevor auch sie ihr Transparent zusammenrollen und von dannen ziehen.

„Das ist in den letzten Jahren in Hernani leider normal“, erklärt Bürgermeister José Antonio Rekondo. „Wir sind sogar noch Schlimmeres gewohnt.“ Das Büro seiner Partei, der bürgerlich-nationalistischen Baskischen Alternative (EA), wurde dreimal in Brand gesteckt. Dem gemeinsamen Sitz der sozialistischen PSOE und der ihr nahestehenden Gewerkschaft UGT erging es nicht besser. Einem Bunker gleicht seither das an der Hauptverkehrsstraße des Ortes gelegene „Volkshaus“. Die Fenster sind vergittert, eine schwere stählerne Eingangstür schützt vor unliebsamen Besuchern. „Auch vor Personen machen die Gewalttäter nicht halt“, fährt Rekondo fort. Einmal wollten ihn dreißig Vermummte in seinem Büro im zweiten Stock des Rathauses besuchen. „Doch noch bevor sie richtig die Treppe oben waren, hatten mich die Gemeindediener telefonisch verständigt.“ Rekondo schloß sich ein und wartete ab, bis die Polizei dem Spuk ein Ende setzte.

Wenn er „sie“ oder „die Gewalttäter“ sagt, meint der Bürgermeister Herri Batasuna (HB), eine für die Unabhängigkeit des Baskenlandes eintretende linksnationalistische Wahlkoalition. Mit 39 Prozent ist die Partei aus dem Umfeld der bewaffneten Separatistengruppe ETA die stärkste politische Kraft in Hernani. „Doch wir haben ihnen den Weg verbaut“, erklärt Rekondo zufrieden. „Wir“ oder „das demokratische Lager“ – so spricht Rekondo von einem Bündnis aus vier Parteien, die zusammen 60 Prozent des Gemeinderats stellen, und das ihm seinen Posten sichert: neben EA die Baskisch- Nationalistische Partei (PNV), aus der Rekondos Gruppierung einst als Abspaltung hervorging, die PSOE und die konservative Partido Popular (PP). Seit 1991 regiert Rekondo so und zieht sich damit den Zorn der HBler zu, die nach zwölf Jahren das Bürgermeisteramt mit der Oppositionsbank tauschen mußten.

Ein Verlust, der schmerzt, denn die Kleinstadt zwischen sanftgrünen Hügeln ist die heimliche Hauptstadt der Nationalen Baskischen Befreiungsbewegung (MLNV), einem Zusammenschluß aus politschen und kulturellen Gruppen rund um ETA und HB. So beherbergt der mittelalterliche Ortskern die Zentrale des Jugendverbandes Jarrai und der Gefangenenhilfsorganisation Gestoras pro Amnistia. Die HB-nahe Tageszeitung Egin und der gleichnamige Radiosender haben sich in einem der umliegenden Industriegebiete niedergelassen.

Der Ort ist zu klein für den Schutz von Anonymität

Wer in Hernani wohnt, sollte gut auswählen, wo er nach Feierabend seinen Wein trinkt. Der Ort, nur zehn Minuten von der Atlantikküste entfernt, ist groß genug, um jedem sein eigenes Ambiente zu bieten, und doch zu klein, um Anonymität zu gewährleisten. Nationalistische Symbole zieren überall die Regale hinter dem Tresen. In den Kneipen, deren Inhaber HB nahestehen, dürfen außerdem die Fotos der 23 örtlichen ETA-Gefangenen nicht fehlen. „Der erste von links ist Txemari, der Schwager des Bürgermeisters“, wird dem Besucher mit einem süffisanten Lächeln erklärt.

„Eine äußerst angespannte Lage“, gibt die HB-Fraktionsvorsitzende Koro Etxeberria zu. Schuld daran sind ihrer Ansicht nach die Parteien, „die es sich in Spanien gemütlich gemacht haben. Das sind die gleichen, die uns den Bürgermeisterposten geklaut haben, obwohl wir die stärkste Partei sind.“

Die überall im Dorf geklebten Plakate, Aufrufe zu immer neuen Demonstrationen, zeugen von der regen Tätigkeit der Linksnationalisten. Egal ob es um die Lage der politischen Gefangenen, Ermittlungen gegen führende HB-Mitglieder wegen „Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“, Verhaftung eines ETA-Kommandos oder um die Unabhängigkeit des Baskenlandes geht, die Bilder gleichen sich. Ein paar hundert Demonstranten ziehen durch die Hauptstraßen, während kleine Grüppchen von Jugendlichen in den Seitengassen die Polizisten im Auge behalten, die immer öfter aus heiterem Himmel losstürmen. Passiert das nicht, endet das Ritual auf dem Rathausplatz. Die Teilnehmer stellen sich im Kreis auf und rufen Parolen wie „Hoch lebe ETA-militar!“ oder „Hoch lebe das freie, sozialistische Baskenland!“. Zum lautstarken Abschluß wird das „Lied des baskischen Soldaten“ angestimmt, die Hymne der Separatisten. Neuerdings haben die Demonstranten eine weitere Parole in ihr Repertoire aufgenommen, einen makabren Gruß an den Bürgermeister, der dort oben hinter dem Balkon mit den vielen rot-gelben Farbklecksen residiert: „Rekondo hörst du? Pim, pam, pum!“ ahmt die Menge Pistolenschüsse nach. Koro Etxeberria ist immer in der ersten Reihe.

Eine Einschüchterung? Die HB-Sprecherin von Hernani verzieht abschätzig den Mund. „Angst haben wir hier doch alle. Angst, in eine Polizeikontrolle zu kommen, Angst, morgens die Tür aufzumachen, und es ist nicht der Milchmann.“ Dann zeigt Etxeberria auf eine kleine Tafel vor sich auf dem Tisch, auf der über 600 Gefangene aus ETA abgebildet sind. „Seit ihrer Verlegung in Knäste in ganz Spanien bis hin zu den Kanarischen Inseln werden die Besuche von Angehörigen wegen der großen Entfernung unnötig erschwert. Darüber redet niemend. Leiden die etwa nicht?“ fragt sie.

PNV und EA, die neben vielen Bürgermeistern auch die Regionalregierung stellen, haben diese Politik der Verlegung der Gefangenen in verschiedene Gefängnisse unterstützt – für HB der Beweis ihres Sündenfalls in die Arme Madrids. „Wessen Rechte ständig mit den Füßen getreten werden, der schlägt irgendwann zurück“, beschreibt Etxeberria die zunehmenden Auseindersetzungen. „Eine Vergesellschaftung des Leidens ist bedauerlicherweise die einzig effektive Strategie, um die Gegenseite dazu zu zwingen, mit uns über einen Ausweg aus dem Konflikt zu reden.“

Kaum ein Wochenende ohne Sabotageakte

In Hernani vergeht kaum ein Wochenende ohne Sabotageakte oder Scharmützel mit der baskischen Polizei. Als „ein spontanes Aufbegehren der Jugend, genauso wie der bewaffnete Kampf der ETA eine Form der Selbstverteidigung des Baskenlandes gegen seine Feinde“ ist, charakterisiert Antxon (24), einer der Hauptamtlichen in der Zentrale des Jugendverbandes Jarrai, dieses Phänomen. Ob der geplante Angriff auf den Bürgermeister, die eingeschmissenen Scheiben im Laden eines anderen EA-Politikers am Ort, die Brandsätze gegen den Buchladen der Frau eines sozialistischen Regionalparlamentariers in San Sebastián oder die Besuche bei unliebsamen Journalisten – das alles sind für Antxon „legitime Aktionen, wenn man sie im Zusammenhang betrachtet“. Auch der Einwand, daß in einer Demokratie der Umgang mit dem ideologischen Gegner politische Argumente erfordert anstatt bewaffneter Aktionen, zieht nicht. „Ohne das Recht auf Selbstbestimmung für das Baskenland ist es ein Hohn, von Demokratie zu sprechen.“ Und: „Die Politiker haben mit der baskischen Polizei Ertzaintza schließlich auch einen eigenen bewaffneten Arm.“

In diesem Klima der „Vergesellschaftung des Leidens“ reicht oft schon eine Kleinigkeit, um den politischen Gegner zu erschrecken. „Vor ein paar Wochen kam ich in mein Büro und fand das hier auf dem Boden“, sagt Javier Urbistondo, der einzige Gemeinderat der in Madrid regierenden konservativen Partido Popular (PP). Dabei zeigt er auf einen faustgroßen Betonbrocken, der ihm seither als Briefbeschwerer dient. „Ein Hinweis, daß sie hier reinkönnen“, vermutet der Politiker, „Fallschirmspringer“ genannt, weil er von der PP, die in den meisten baskischen Dörfern über keine Ortsgruppen verfügt, aus San Sebastián „eingeflogen“ wurde.

Das soll sich ändern. „Bis zu den nächsten Wahlen will ich einheimische Kandidaten heranziehen“, sagt Urbistondo. Kein leichtes Unterfangen: Seit der PP-Vorsitzende in der Provinz und Bürgermeisterkandidat in San Sebastián, Gregorio Ordoñez, im Januar 1995 am hellichten Tag von der ETA in einem Restaurant erschossen wurde, steigen zwar die Wählerstimmen für die Konservativen. Doch das eigene Gesicht für eine Parteipolitik herzugeben, die in den Basken, wenn überhaupt, eine regionale Besonderheit sieht, aber keine eigene Nation, das will keiner.

Urbistondo bezwingt die Angst mit einer Reihe von Sicherheitsmaßnahmen. Er wohnt noch immer in San Sebastián. Wenn er in sein Auto steigt, vergewissert er sich, daß keine lapa (Klette) – die kleinen, tödlichen ETA-Sprengsätze, die beim Anlassen des Motors explodieren – unter seinem Auto klebt. Nach nächtlichen Drohanrufen hat der PP-Gemeinderat die Wohnung gewechselt, seine neue Telefonnummer kennen nur die engsten Freunde.

Wenn Urbistondo heute durch die Staßen von Hernani geht, passieren ihm keine Anfängerfehler mehr, wie damals, als er in die falsche Kneipe geriet. „Plötzlich sah ich ein Plakat über der Theke: Mein Gesicht durch den Sucher eines Gewehrs“, erzählt Urbistondo, während er das Rathaus Richtung Parkplatz verläßt. Im Vorbeigehen winkt er einem älteren Herrn zu, der grüßt freundlich zurück. „Der Vater eines ehemaligen Klassenkameraden, heute Anwalt von ETA-Gefangenen.“ Der Mut von Urbistondo, trotz massiven Drucks weiterzumachen, nötigt offensichtlich so manchem Respekt ab. Der Politiker mustert kritisch sein Auto, steigt ein und sucht einen neuen Weg hinunter an die Küste.

Der Rathausplatz liegt verlassen da. Noch ist Mittagspause. Die Inhaberin eines Miederwarenladens wischt auf dem Marmorsockel unter dem Schaufenster herum. „Bullen an die Wand“, hat da jemand hingesprüht. „Rabauken“, brummelt sie vor sich hin, mehr ist ihr nicht zu entlocken. Der Alte auf der Bank wenige Meter weiter ist etwas gesprächiger. „Ich möchte von der Politik nichts wissen“, sagt er. Um keine Zweifel aufkommen zu lassen, fügt er hinzu: „Selbstverständlich bin ich für die Unabhängigkeit des Baskenlandes. Aber ich habe den Bürgerkrieg mitgemacht, ich weiß, wohin die Vermischung von Politik und Gewalt führen kann.“