Boot ohne Ruder auf offener See

Im UKE proben psychisch Kranke den Alltags-Einstieg  ■ Von Lisa Schönemann

Die Angst, „da kommste nie wieder raus“, blockiert für viele Patienten den Weg in die Psychiatrie. Zwangsmedikamentiert, ans Bett gefesselt und eingesperrt zu werden – so sahen Carolas Zacharias* Horrorvisionen von der „Geschlossenen“aus. „Ich hab da lieber –nen Bogen drumgemacht“, erinnert sich die Frau, die unter Angstzuständen leidet und seit vier Monaten Patientin der Psychiatrischen Tagesklinik am Universitätskrankenhaus Eppendorf (UKE) ist.

Der freundliche Flur der Tagesklinik mit seinen über und über mit Informationen behängten Pinnwänden erinnert eher an studentische Selbstverwaltung als an „Einer flog über das Kuckucksnest.“Geschnitzte Holzwegweiser laden in die Räume der Ergotherapie, beispielsweise die Töpferstube oder die Holzwerkstatt, ein. Wochenpläne weisen die Gesprächsrunde, die Psychodramagruppe und den Kochkurs aus.

Ambulanz für Angstanfälle

Die Eingangstür steht weit offen. Auf dem Gang spricht eine Patientin mit Ringen unter den Augen den diensthabenden Arzt an. „Mir geht es überhaupt nicht gut“, sagt sie leise und wird eine Stunde später in sein Zimmer eingeladen. Langsamer geht sie anschließend zurück zur Sitzecke vor dem Fahrstuhl. Da treffen sich die Patienten auf ein paar Worte oder eine Zigarette. Die Tagesklinik ist eine Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Versorgung – eine von den Krankenkassen anerkannte Akutanlaufstelle bei Angstanfällen, Selbsttötungsabsichten und schwerer Antriebsschwäche sowie bei Wahnvorstellungen. Kranke, die nicht aus ihrem Lebenszusammenhang in ein steril wirkendes Zweibettzimmer katapultiert werden möchten, finden im UKE Aufnahme.

„Wir geben Rückendeckung für die ersten Schritte in eine Behandlung oder sind unter Umständen die letzte Station für diejenigen, die gelernt haben, mit ihrer Krankheit zu leben und in absehbarer Zeit nach Hause zurücckehren wollen“, faßt Michael Stark, Leiter der Tagesklinik, zusammen. Den Patienten wird Gelegenheit gegeben, zu Kräften zu kommen, sich beruflich umzuorientieren und an Medikamente zu gewöhnen. Sie lernen, ihre Frühwarnzeichen und auslösenden Belastungssituationen zu erkennen und zu reduzieren. Für viele kommt damit ein Ende des jahrelangen „Insichhineinfressens“in Sicht.

Sylvia Klein* kam nach dem ersten Schock erlebter Wahnvorstellungen für vier Monate in die Tagesklinik. Zwei feste Bezugspersonen halfen ihr in Gesprächen, das traumatische Erlebnis einer Psychose zu verstehen und zu verarbeiten. „Ich habe es als Schock erlebt, daß ich mich nicht mehr auf meine Wahrnehmung verlassen konnte.“Die 29jährige hatte plötzlich den Eindruck, „der gesunde Menschenverstand setzt einfach aus“.

Der fest strukturierte Tag in der Klinik ersetzte ihr die Orientierung, die sie vollkommen verloren hatte, „denn Psychose bedeutet, wie ein Boot ohne Ruder auf offener See herumzuschlingern“, so Sylvia Klein, die obendrein mit Nebenwirkungen der Neuroleptika zu kämpfen hatte. Ihre Betreuer sprachen außerdem mit ihren Angehörigen, die sich nicht daran gewöhnen mochten, daß ein Familienmitglied „verrückt“geworden war. Die Mutter der Patientin erkundigt sich regelmäßig, wann es ihr besser gehen wird. „Als ob ich mit einer Grippe im Bett liegen würde und spätestens Ostern wie früher zum Brunch kommen könnte“– die Enttäuschung über das Unverständnis der Familie will Sylvia Klein nicht verbergen. „So Psychosen verändern einen“, ergänzt ihre Mitpatientin Kathrin Junge, „aber die Menschen sehen gern, daß man trotzdem wieder normal, funk-tionstüchtig, lieb und nett wird. Wenn man, nicht zuletzt aufgrund der Therapie, anfängt nein zu sagen, fangen die Probleme erst an. Da heißt es, Du bist aber aggressiv geworden, red doch mal mit Deinem Arzt, das liegt bestimmt an den Tabletten.“

Leben ohne Lüge

Sechs Jahre lang ahnte außer engsten Freunden niemand etwas von Junges* psychischer Erkrankung. „Wenn Du immer lügen mußt, dann strengt das wahnsinnig an“, bilanziert die 38jährige. Sie habe es als persönlichen Makel empfunden, daß sie die Hilfe der Psychologen und Psychiater in Anspruch nehmen mußte. Als sie sich „geoutet“hatte, stellte die Behördenmitarbeiterin fest, daß den Kollegen nie etwas aufgefallen war. Nun aber wurde jedes Wort auf die Goldwaage gelegt: „Ist sie nun bekloppt oder nicht?“

*Namen von der Red. geändert