„Schon so viele Aufschreie erlebt“

Hamburg vor einer Abschiebewelle: 803 BosnierInnen können sofort „rückgeführt“werden. Ab Mai auch Eltern und Kinder  ■ Von Silke Mertins

Ihre Duldungen sind ausgelaufen, nichts steht einer Abschiebung mehr im Wege: Für 803 in Hamburg lebende bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge kann die unfreiwillige „Rückführung“sofort losgehen. „Am liebsten in kleinen Gruppen“und „ohne spektakuläre Aktionen“möchte Hamburgs Innensenator Hartmuth Wrocklage (SPD) die Flüchtlinge loswerden.

Die ersten BosnierInnen wurden bereits am vergangenen Wochenende abgeschoben. Bisher habe er jeden Einzelfall „sensibel geprüft“, so Wrocklage gestern in einem Hintergrundgespräch. Angesichts der großen Anzahl wird in Zukunft jedoch ein anderes Verfahren nötig sein. Wie genau die Innenbehörde die bevorstehende Abschiebewelle zu organisieren gedenkt, wollte sie noch nicht verraten. Das hinge „von den Möglichkeiten ab“, etwa ob „Begleitung“– Bundesgrenzschutzbeamte – erforderlich wäre, welche Flüge zur Verfügung stünden oder ob ein ganzer Flieger gechartert werde.

Bis Mitte des Jahres will man die „erste Phase“, von der insgesamt 2.600 erwachsene Flüchtlinge ohne Kinder betroffen sind, abgeschlossen haben. Ab dem 1. Mai kommt die 9.900 Menschen umfassende „zweite Phase“der Zwangs-Rücckehr hinzu. Dann sind auch Familien mit Kindern dran.

Vorerst ausgenommen sind lediglich Azubis, die ihre Ausbildung vor dem 26.1.96 begonnen haben. SchülerInnen dürfen im Regelfall lediglich ihr Schuljahr, nicht aber den Schulabschluß in Hamburg abschließen, auch wenn sie kurz vor dem Abitur stehen.

Traumatisierte würde Wrocklage gerne „ganz zum Schluß abschieben“. Auch das gilt jedoch grundsätzlich nur für die Kranken, die bereits vor den Beschlüssen der Innenminister in Behandlung waren. Wer über seine Erfahrung im Lager oder auf dem Schlachtfeld erst Monate später mit einem Psychologen zu reden wagte oder mangels muttersprachlicher Fachleute ganz darauf verzichtete, hat keinen Anspruch auf ein vorläufiges Bleiberecht. ZeugInnen im Den Haager Kriegsverbrecherprozeß, rund zehn in Hamburg, bleiben vorerst verschont.

Möglichst bis Ende des Jahres sollen die 11.700 in Hamburg verbliebenen bosnischen Flüchtlinge gegangen worden sein. Was Hunderte von Abschiebungen kosten werden, hat die Behörde noch nicht errechnet. Aber „wir haben genug Mittel, um das umzusetzen“, so Wrocklage. 800 haben dem Druck der Behörden bereits nachgegeben und sind ausgereist. Diese sogenannte freiwillige Rückkehr sei „nicht identisch mit dem, was man umgangssprachlich darunter versteht“, räumt Martina Wedel vom Referat für Ausländerrecht der Innenbehörde ein. Denn das setze eine freie Entscheidung voraus.

Angst davor, mitten im Hamburger Wahlkampf Eltern mit ihren Kindern abzuschieben – womöglich unter dem fassungslosen Protest von MitschülerInnen, LehrerInnen und Flüchtlingsorganisation –, plagt Wrocklage nicht. „Ich habe schon viele Aufschreie hinter mir.“Er müsse „das Gesamtproblem lösen“und „sitze hier, als würde ich 100 Jahre“und nicht nur bis zum September regieren.