Hard Core Klassik ganz sinnlich

■ Ligeti in der Glocke: Das Philharmonia Orchestra spielte auf, der Geiger bot vollen Materialeinsatz und das Publikum jubelte

Großbritanniens nobelster und wohlklingendster Klangkörper beehrte Bremen am Montag mit seinem Besuch. Den Älteren wird das Philharmonia Orchestra London noch vertraut sein – als das von Otto Klemperer, der es mit zittrigem Taktstock dirigierte. Nicht nur der Besuch weckt Freude, euphorisch gar wird der Musikfreund, blickt er aufs Programm. Kein Hochglanzaufguß der alten sinfonischen Schlachtrösser wird geboten, sondern Hard Core Klassik.

Im Zentrum steht György Ligeti, dessen orchestrales Werk das Orchester anläßlich seines 75. Geburtstages im Mai 1998 in den musikalischen Zentren der Welt komplett aufführen und auf CD einfangen will. Um Ligeti herum gab es Ravel und Bartók. Das Bremer Publikum nahm die Herausforderung engagiert an, füllte die Glocke ansehnlich und ließ sich begeistern. Hätten noch die Filmfreaks, die sich vor Sehnsucht nach der nächsten Aufführung von Kubricks „2001“verzehren, gewußt, daß Ligeti nicht nur der musikalischen Fachwelt als kühner Revoluzzer aufgefallen ist, wäre vielleicht der Saal geplatzt. Denn immerhin hat der Neutöner den dramaturgisch wichtigsten Teil zum Soundtrack des tiefsinnigen Weltraumspektakels geliefert. Bei Kubrick stand Ligeti (es war wohl sein Requiem) für den Einbruch des Unerklärlichen in die hochkomplexe aber rational faßbare Welt.

Rätselhaft, aber nicht unfaßbar, war das von Frank Peter Zimmermann mit vollem Materialeinsatz (zersägter Bogen) gespielte, jüngst entstandene fünfsätzige Violinkonzert. Die Ohren waren bereits durch Ravels „Mutter Gans“geschärft, deren Erzählungen hinter kindlicher Fassade fremde außereuropäische Klangwelten entstehen läßt.

Ligeti wandelt seit langem auf nicht gesichertem Boden und sucht jenseits verfestigter Systeme zur Ordnung von Tönen und Rhythmus nach Ungehörtem. Die Streicher sind graduell unterschiedlich gestimmt, fremdartige Blasinstrumente (Okarinen bzw. Lotusflöten) passen sich nicht in die Stimmung der Blasinstrumente ein. So entstehen Gewebe von zartverschleierter Durchsichtigkeit und Mischfarben, die schmerzhaft nicht stimmen – musikalischer Schmutz mithin.

Die Violine Zimmermanns, eines begnadeten Spezialisten für geigerische Avantgarde, wurde vollmundig und spieltechnisch perfekt, mit sichtlichem Vergnügen gestrichen. Sie hebt sich mit sinnenfrohem Spiel vom luziden oder schlammigen Orchestergewebe ab und verfällt im Finalsatz unbekümmert in bewußte Konfrontation zum Orchester. Sie spielt mit Witz und Augenzwinkern ein buntes Potpourri an virtuosen Floskeln aus der Violinkonzertliteratur, bis dem Orchester der Geduldsfaden reißt und es mit harten Schlägen dem Ausbruchsversuch des Violinisten ein abruptes Ende bereitet.

Nach der Pause ein frühes programmatisches Werk Ligetis: „Ramifications“(Verästelungen) für Streichorchester. Die Hälfte des kleinen aber exklusiven Streichapparats ist um einen Viertelton herabgestimmt. Ein Flimmern und Flackern entsteht, das wohl Wagners Mime vor Augen gehabt haben muß, als vom Fürchten er sang. Es lichtet sich, an Siegfrieds Wald mag man denken, verspannt und verhärtet sich und zerreißt.

Die den Abend abschließende Musik für Saiteninstrumente, Celesta und Schlagzeug von Bela Bartók zeigt uns, daß Ligeti durchaus bodenständige Wurzeln hat: Bartóks ungarische Heimat ist auch die seine. Dessen aus heimischer Volksmusik gewonnene Technik der Grenzüberschreitung, der Zuspitzung, aber auch der Auflösung musikalischer Struktur, scheint für Ligeti bestimmend zu sein.

Unter der Leitung des renommierten finnischen Dirigenten Esa Pekka Salonen spielte das Philharmonia Orchestra bravourös auf. Warmer Streicherklang, der sich im Nichts verlieren konnte, akkurates gleichwohl sensibel blasendes Holz und ein virtuos auftrumpfendes Schlagwerk machten das nicht leicht konsumierbare Programm zum sinnlichen Vergnügen. Solcher Musizierfreude auf so hohem Niveau mußte das Publikum einfach mit Ovationen begegnen. Zeitgenössische Musik – eine esoterische Spielwiese? Dies Vorurteil dürfte der Abend für Bremen widerlegt haben. Mario Nitsche