Archäologie der Verluste

■ Ein neues Buch zum Thema Beutekunst: „Raubzüge in der Sowjetunion“

Am liebsten möchte sich Wolfgang Eichwede, Bremer Diplomat in Sachen Beutekunst, jeglicher politischer Äußerung enthalten. Denn die Diskussion um die Rückgabe der im Zweiten Weltkrieg von deutscher und sowjetischer Seite jeweils geraubten Kunstschätze zeichnet sich hüben wie drüben durch zunehmende Emotionalität und mangelnde Sachlichkeit aus.

Die Beutekunst sei „eigentlich ein Gebiet, das erst noch erforscht werden muß“, betonte gestern der Direktor der Forschungsstelle Osteuropa der Uni Bremen, die nach Rückgabemodalitäten sucht. Erneut wies Eichwede darauf hin, daß die Arbeit seines Institutes sich nicht darauf beschränken dürfe, ursprünglich deutschem Kulturgut im heutigen Rußland nachzuspüren. Forderungen an die russische Regierung ließen sich nur rechtfertigen, wenn die deutsche Seite zuvor den deutschen Kunstraub in der Sowjetunion aufkläre.

Als Schritt in diese Richtung präsentierte Eichwede gestern das vom Institut herausgegebene und von Ulrike Hartung verfaßte Buch „Raubzüge in der Sowjetunion – Das Sonderkommando Künsberg 1941-1943“. Dieses Kommando war eine von verschiedenen deutschen Organisationen, die während des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion mit der Beschlagnahme sowjetischer Kunst- und Kulturgüter beauftragt worden waren.

Das 1941 gegründete und nach seinem Begründer Eberhard Freiherr von Künsberg benannte Kommando handelte zunächst im Auftrag des Auswärtigen Amtes und später der Waffen-SS. Ausgestattet mit zuletzt 360 Mitarbeitern, 34 PKW, 33 LKW, Krädern und sogar Sanitätswagen war das Kommando Künsberg in der Sowjetunion an vorderster Front am Raub von Kulturgütern beteiligt. Es entwendete zunächst Verwaltungsakten, strategisch wertvolle geografische Karten sowie Forschungsmaterialien. Nach der Besetzung einer Stadt erfolgte schließlich die Plünderung der Kultureinrichtungen, darunter auch die Bibliotheken der Zarenschlösser, wobei es, wie Ulrike Hartung recherchierte, „zu absurden Konkurrenzsituationen mit anderen deutschen Kunstrauborganisationen“kam.

Schon 1942 wurde die Beute in Berlin in einer Ausstellung mit dem Titel „Proben der vom Sonderkommando AA im Rußlandeinsatz sichergestellten Bestände“präsentiert. Eingeladen wurden Vertreter der Reichsministerien sowie ausgewählte NS- und SS-Eliten. Neben ihnen buhlten NS-Forschungsinstitute und Spezialbibliotheken um den Erwerb von 69.000 geografischen Karten, 75.000 Bänden geografischer Literatur und um etwa 37.500 literarische Kostbarkeiten aus den Zarenschlössern.

Der große Erfolg der Ausstellung führte zu einer Intensivierung der Tätigkeiten des Sonderkommandos. Man schreibt ihm den Raub von etwa 300.000 bibliophilen Werken zu, außerdem die Entwendung von 5.000 Plakaten und ebensovielen Propagandafilmen. Besonders im Baltikum und in der Ukraine führten die Raubzüge zum Abschneiden von Kultur und Geschichte, bilanziert Eichwede: „Etwa zwei Drittel aller Verluste sind ukrainische Verluste.“

Die Forschungsstelle Osteuropa ist um die Rückgabe bemüht. Doch schon die „Archäologie der Verluste“erweist sich als schwierig: „Wir können sagen, was nach dem Krieg in der Verfügungsgewalt der Westmächte stand“, erklärt Eichwede. Unklar aber ist, was die Rote Armee nach ihrem Vormarsch auf die Elbe selbst vorgefunden hat. Trotz mehrfacher Bitten des Institutes blieben die sowjetischen Militärakten in Rußland und der Ukraine bis heute verschlossen.

Unklar ist auch die Zählweise: Wenn heute allein auf den Verlustlisten der russischen Museen 600.000 Objekte stehen und mehrere zehn Millionen Bücher, und andererseits die Deutschen etwa 200.000 Museumsobjekte, bis zu zehn Millionen Bücher und kilometerlange Archivbestände in russischem Besitz wähnen, so sind dies uneffektive „Zahlenschlachten“, mahnt Eichwede. Denn niemand weiß, ob ein in 15 Teile zersprungenes Gefäß als ein oder als 15 Objekte registriert wurden.

Eines hingegen steht laut Eichwede nach den bisherigen Forschungsergebnissen fest: „Wir sind froh, daß wir bei uns gegenwärtig keine größeren Bestände in Depots versteckt haben.“So war schon 1945 der Großteil der von den Nazis verschleppten Kulturgüter von amerikanischen Einheiten in süddeutschen Klöstern und Schlössern entdeckt, registriert und an die sowjetischen Militärbehörden zurückgegeben worden.

Die Liste der knapp 540.000 Objekte ist auf einer ebenfalls vom Institut herausgegebenen CD-Rom einzusehen, die Bundeskanzler Kohl zu Beginn des Jahres Boris Jelzin überreicht hat. Vielleicht trägt sie zur Versachlichung der Beutekunst-Diskussion bei, die auch in Rußland vehement geführt wird: Vor wenigen Tagen erst legte Jelzin sein Veto ein gegen das vom russischen Parlament beschlossene und von der Föderation bestätigte Gesetz, welches die von Deutschland nach Rußland verschleppten Kunstgegenstände zu russischem Staatseigentum erklärt.

Dora Hartmann

Edition Temmen, 39.90 DM.