Vor den Glastüren der Macht

15.000 Arbeiter und Angestellte demonstrierten gestern vor den Banken in Frankfurt. Die meisten glauben nicht, daß ihre Arbeitsplätze nach den Verhandlungen von Krupp und Thyssen sicherer geworden sind  ■ Von Heide Platen

Schrill, schrill und noch einmal schrill, Pfeifen, Tröten, Trommeln, laute Rockmusik. In der Schlucht zwischen glasverspiegelten Bankfassaden in der Frankfurter Innenstadt tönte gestern vormittag das Echo: „Cromme, wir kommen! Versteck dich im Kühlschrank!“ „Nää, dat kann der nicht, der muß et Jeld zählen!“

Alois ist Rentner und auf zwei Krücken gekommen. Er ist 70 Jahre alt und „Uralt-Metaller vom Adler“ in Frankfurt, entlassen bei der Betriebsstillegung vor fast 20 Jahren. Er sitzt vor Vorfreude viel zu früh im Bus, um auch ja rechtzeitig zur Kundgebung zu kommen, die um „fünf vor zwölf“ beginnen soll. Und er hat sich gut ausgerüstet, einen verwaschenen Rucksack mit Kaffee und Broten, Regenhaut und Schirm über dem grünen Anorak, als ginge es zum Picknick, den Pepitahut fest über die vom Kämmen noch feuchten Haare gezogen. „Des müsse mer unnerstitze“, sagt er wildentschlossen, „des geht endlisch gegen die da obbe.“

Eine Krücke reicht ihm zum Stehen, mit der anderen droht er in Richtung der oberen Banketagen. Über die Grußadresse der Frankfurter SPD allerdings muß er laut lachen. Daß ausgerechnet die imstande sei, gegen die Großbanken „die Republik zum Stehen zu bringen“, das glaubt der alte Sozialdemokrat ganz und gar nicht. Aber den Stahlkochern aus dem Ruhrpott, denen traut er das schon zu: „Daß ich das noch erleben darf!“

Ab neun Uhr werde die Mainmetropole „dichtgemacht“, hatten die Betriebsräte von Thyssen, Krupp und den Tochterfirmen am Montag angekündigt. Gekommen waren, so schätzten die Veranstalter gestern, über 20.000 Menschen, um vor Deutscher und Dresdner Bank gegen die Fusion der beiden Konzerne zu demonstrieren. Und sie kamen auch von VW Kassel und der Opel AG. Im Bankenviertel ging ab zehn Uhr nichts mehr. Rundherum regelte die Polizei den Verkehr, der kaum weniger stockend rollte als während der letzten Automobilmesse. Die Polizei, die die Zahl der Demonstranten auf 10.000 bis 15.000 schätzte, gab sich gelassen: „Alles halb so wild.“

„Otto Cimarno“ steht auf dem weißen Helm. Der Schlosser und Betriebsrat von Thyssen Süd Hüttenheim macht aus seinem Herzen keine Mördergrube. „Die Leute haben Angst. Es kann doch nicht das Diktat der Banker sein, wo wir arbeiten und daß wir überhaupt einen Arbeitsplatz haben.“ Dem kleinen Mann mit den blauen Augen sträubt sich der Schnurrbart. Er ist 49 Jahre alt, 27 Jahre „auf der gleichen Hütte“: „Und da gehöre ich zum alten Eisen! Ich krieg' keine Arbeit mehr. Da ist der Lack ab.“ „Jawoll“, brüllen die Kollegen, „du bist 'n oller Sack!“

Cimarno, seit einer Woche unentwegt auf Achse zwischen der Straße und Marathonkrisensitzungen, hält ganz und gar nichts von den letzten Nachrichten über die Verhandlungen der beiden Konzerne: „Nichts wird besser. Wir wissen überhaupt nichts. Wir wissen nicht, wer wohin verkauft wird. Wir wissen nicht, was stillgelegt wird. Wir wissen nicht, wie viele Arbeitsplätze draufgehen.“ „Am besten, den ganzen Bunker in die Luft sprengen!“ ruft es dazwischen. Ein anderer entschuldigt das sofort: „Dat ist die Wut!“

Abgefahren sind Cimarno und seine Kollegen morgens um sieben mit zehn Bussen im Konvoi. Auf der Autobahn sind sie nicht nur den 150 Bussen der Stahlkocher aus Hamborn begegnet, sondern auch der Thyssen Handel und Logistik, die mit den hundert eigenen Lastwagen mitrollte. Davon, daß auch der Bereich Mobilfunk sich solidarisieren werde, weiß Cimarno noch nichts. Und dann kommen sie: „Dat sind die Nannonannos! Die Handies!“

Die 2.000 Demonstranten der Thyssen Informationstechnik Remscheid werden mit Begeisterung begrüßt. Auch Angestellte aus der Verwaltung und dem Immobilienbereich sind gekommen, allerdings nicht ganz so kampfbereit wie ihre Kollegen aus der Produktion. Ein weißhaariger Mann mit Goldrandbrille möchte vor den Mikrofonen lieber nichts sagen und dreht sich vorsichtig weg: „Dat hier, dat ist auch nich das Wahre. Die machen mit uns doch sowieso, was sie wollen.“ Währenddessen nervt Francis seine Kollegen. Der schwarze Industriearbeiter kokettiert mit seiner Hautfarbe. Die kleinen runden Bomben, die die Metaller auf ihre Plakate gemalt haben, die sind ihm alle „viel zu schwarz“ geraten. „Dat“, sagt Francis' Kollege Karl, „dat is ein feiner Kerl. Afrikaner? Nää, dat war der früher mal.“

Daß die Stahlarbeiter auf ihrem Weg in die Innenstadt von einer lockeren Polizeiformation am Straßenrand begleitet wurden, haben sie sehr wohl registriert. Und mit Ruhrpott-Charme kommentiert. Denn so ungefähr jeder zweite Polizist im dunkelgrünen Kampfanzug ist eine Polizistin. „Dat ist psychologisch“, sagt Cimarno. Und wird zum Kavalier: „Denen tun wir doch nichts. Wir sind nicht brutal, vielleicht manchmal rüpelhaft, aber nicht militant.“

Kollege Karl, ebenfalls Schlosser in Duisburg-Süd, erst 39 Jahre alt, rechnet sich bei Entlassung keine Berufschancen mehr aus. Er freut sich über die „große Resonanz“, die ein Boykottaufruf gegen die Deutsche und die Dresdner Bank bei den Kollegen hatte: „Da haben sogar Edeka-Läden mitgemacht und ihre Konten gekündigt.“ Aber, fürchtet er, „das sind für die wahrscheinlich auch nur Peanuts.“ Daß sein Arbeitsplatz durch die Abwendung der „unfreundlichen Übernahme“ sicherer ist, glaubt er nicht: „Wir machen weiter.“ Nicht Kohl, sagen die Malocher von Thyssen Süd, übereinstimmend, sei schuld: „Das sind die Banken, die regieren uns. Doch nicht die in Bonn.“

Daß zum Beginn der offiziellen Kundgebung ein leichter Nieselregen fällt, stört sie alle nicht: „Wir Stahlarbeiter haben genug Feuer im Herzen.“ Am Rande eilen im kühlen Wind Bankangestellte in Kamelhaarmänteln mit ihren Aktenköfferchen durch die Menge. Keiner von ihnen wird angepöbelt. Und sie bleiben auch stehen und lesen mit Interesse die Plakataufschrift mit der Frage: „Herr Cartellieri, sind Sie die Mafia?“ Ein Sprecher der Deutschen Bank lobte die Demonstration schon gestern mittag als „sehr gesittet“.

Vor der Tribüne nimmt ein Arbeiter zum Beginn der Reden die Watte aus den Ohren, die er sich hineingesteckt hatte, als die Musik aus den Riesenboxen dröhnte. Er ist im Werk lärmempfindlich geworden. Vor ihm haben sich die Stahlkocher in ihren silberglänzenden, aluminiumbeschichteten Schutzmänteln formiert, über die Herzen bunte Zeichnungen eines Hochofens im Querschnitt geklebt. Und IG-Metall-Chef Klaus Zwickel wettert nicht um „fünf vor zwölf“, denn „es ist schon etwas danach“, gegen die mit Absperrgittern geschützte Deutsche Bank. Sie müsse ihr „unmenschliches Spiel mit den menschlichen Schicksalen, das die Gesellschaft krank macht, beenden“.