Dada und andere weggeworfene Ereignisse

■ sucht im „Mülleimer der Geschichte“  Greil Marcus sucht                                                   im „Mülleimer der Geschichte“

Manchmal kommt es auf den Satzbau an. So beginnt ein typischer Satz von Greil Marcus mit Formulierungen wie „45 Jahre früher ...“Das liegt nicht nur daran, daß der renommierte Kulturkritiker aus Kalifornien seit jeher für Genauigkeit auch an den Rändern der Geschichte plädiert, sondern auch an seiner Art, verschiedene Kulturprodukte zu handhaben. Denn Greil Marcus, der 1968 als Popkritiker des Rolling Stone mit dem Schreiben begann, geht es immer um Analogien, Vernetzungen, unterirdische Beziehungen. So suchte er in seinem zentralen Werk Lipstick Traces nach den verborgenen Beziehungen zwischen Dada, Punk und den Situationisten. Wie sich diese Spurensuche zu einer unterirdischen Kulturgeschichte verdichtete, läßt sich nun an der Aufsatzsammlung Der Mülleimer der Geschichte ablesen.

Denn bereits in seinen frühen Artikeln für diverse US-amerikanische Zeitschriften, schürt Greil Marcus Zweifel an den Ereignissen, die Geschichte schreiben. „Es ist eine Binsenweisheit“, erklärt er anläßlich einer Abschlußfeier der Geschichtsfakultät in Berkeley, „daß Geschichte von den Mächtigen geschrieben wird; zutreffender ist, daß Macht Geschichte schreibt“. All die „inoffiziellen, flüchtigen Ereignisse“(Walter Benjamin), die nicht an der legitimierten Verteilung der sozialen Güter teilnehmen, landen aber im Mülleimer der Geschichte. Und in diesem wühlt Greil Marcus mit Hingabe.

Seine vergilbten Fundstücke sind dabei ganz unterschiedlicher Art. Ebenso wie ein unter den Tisch gefallener Song von Bob Dylans Album Infidels (1983) wird die Lebensgeschichte von Deborah Chessler zum Schwingen gebracht, einer weißen Managerin der Doo-Wop-Formation Orioles, die Ende der 50er Jahre einige Hits fertigte, in Marcus' Geschichtsrevision aber zur zentralen Rock 'n' Roll-Band der Musikhistorie avanciert. Dabei wappnet sich Marcus mit Pedanterie gegen die Ungenauigkeiten, mit der gerade die Ereignisse der Popgeschichte und anderer „unterirdischer Geschichten“wiedergegeben werden – wie er etwa anhand der Verunstaltungen einer zentralen Rede des Free-Speech-Movements ausführt. Dieser Gestus ist Methode. Denn wie hierzulande allenfalls Klaus Theweleit, begegnet Greil Marcus einem dreiminütigen Popsong mit der gleichen Akkuratesse und Wertschätzung wie einem Standardwerk des Literaturkanons.

Die entscheidende Meßlatte für die Aufnahme in den revidierten Kanon ist dabei immer ein ganz persönliches Erlebnis. Es sind die Energien irgendeines kulturellen Phänomens, die Marcus unerwartet heftig, und ohne daß er sich dies erklären kann, treffen. Im Gegensatz zu den meisten Kritikern schreibt Marcus seine rückhaltlose Begeisterung, sein Unwissen, aber auch seine Neugier mit.

Erst später packt der Professor aus Berkeley sein kulturkritisches Besteck aus, das zwischen Walter Benjamins Geschichtsphilosophie, Roland Barthes' Mythen des Alltags und einer biographischen Aneignung von Kulturprodukten oszilliert. Mitunter gelingen ihm solch hellsichtige Betrachtungen, die er in stupend einfache und unmißverständliche Formulierungen gießt. Unter seiner Feder wird Kulturkritik so gelegentlich zu Primärliteratur. Doch die unterschiedlichen redaktionellen Vorgaben von Village Voice, California, Artforum und Threepenny Review behindern manchmal seinen Gedankenfluß. Denn, wie jeder Essayist, läuft auch Greil Marcus nur über eine bestimmte Strecke zur Höchstform auf. Bei ihm ist es die Mittelstrecke. Bei seinen kürzeren Texten schält er die Schichten allzu salopp ab; bei den längeren liegt das Material manchmal arg unzerkaut nebeneinander.

Auch merkt man den nicht chronologisch geordneten Arbeiten aus drei Jahrzehnten an, daß sich Greil Marcus für nichts so sehr begeistern konnte wie für Popkultur. Und wenn er, der im Blick auf europäische Kultur vergleichbaren Susan Sontag fast schon beleidigt vorwirft, sie hege bei ihrer Gegenüberstellung von Pop Art und den Songs der Supremes kein echtes Interesse an Popkultur, dann spricht er unfreiwillig über sich selbst. Denn auch Greil Marcus behandelt umgekehrt Malerei mit weniger Interesse als Pop. Für seine Art, sich Kultur anzueignen, ist allerdings der persönliche Zugang unumgänglich.

Volker Marquardt

„Der Mülleimer der Geschichte. Über die Gegenwart der Vergangenheit“, Rogner & Bernhard / Zweitausendeins, 33 Mark