Die Gummiwand aus der Schweiz

Mit sanften, innovativen Trainingsmethoden ebnete Melanie Molitor ihrer Tochter Martina Hingis den Weg an die Tennisspitze. Am Montag wird die 16jährige Steffi Graf als Nummer eins ablösen  ■ Von Wilfried Armonies

Egal, wie Martina Hingis beim Turnier in Key Biscayne abschneidet, in der nächsten Weltrangliste wird der Name der 16jährigen ganz oben stehen. Begünstigt durch die Verletzungen von Steffi Graf, erklimmt die Schweizerin den Gipfel früher als ihre Vorgängerinnen Graf, die 1987 mit 18 Martina Navratilova ablöste, und Monica Seles, die 1991 17 Jahre und drei Monate alt war, als sie die Deutsche verdrängte. Anders als Graf und Seles, die mit ihrer Verbissenheit und ihrem wuchtigen Spiel älter wirkten, als sie tatsächlich waren, besticht Martina Hingis durch Virtuosität, fröhliche Spontaneität und wache Gelassenheit im Umgang mit Ball und Schlagwerkzeug. Die überstrapazierte Formel von der Leichtigkeit des Seins, hier trifft sie zu.

Verantwortlich für Spielweise und Mentalität ist vor allem eine Person: Mutter Melanie Molitor, eine ehemalige tschechoslowakische Ranglistenspielerin, die ihre eigene Tennislaufbahn beendet, als sie das Bewegungstalent entdeckt, das in der zierlichen Tochter schlummert, die sie absichtsvoll Martina genannt hat. Der Name setzt Zeichen und weist den Weg in die Richtung der großen Navratilova – ganz nach oben. Freilich hat nicht (nur) das Wünschen geholfen. In einem vorsichtigen Prozeß führt Melanie Molitor die Tochter stetig zum Tennisspiel als Leistungssport hin, gewarnt vom Schicksal früh ausgebrannter amerikanischer Ausnahmetalente. Kinder fast noch, die letztlich an einer zu raschen und einseitigen Förderung und der bedingungslosen Ausrichtung auf sportlichen und kommerziellen Erfolg scheiterten.

Im bewußten Gegensatz dazu folgt das Hingissche Trainingsprogramm dem innovativen Konzept einer „polysportiven Ausbildung“, das auf Ganzheitlichkeit Wert legt. Training mit Jugendlichen geht auf Vielseitigkeit und Abwechslung. Vermieden werden so eine frühe Spezialisierung auf ein oder zwei „great shots“ und eine einseitige Fixierung auf den Tennissport.

Im Tennis gilt die Fähigkeit, schnell zu sein, als leistungsbestimmender Faktor. Ein Mangel an Schnelligkeit in der konkreten Spielsituation, ob technisch, taktisch, konditionell oder mental, ist kaum kompensierbar. Für das Schnelligkeitstraining von Martina Hingis wird beispielsweise eine Partie Basketball angesetzt. Die Mehrzahl der Laufbewegungen ähnelt in der Form „Sprinten – Abstoppen mit Richtungsänderung – Weitersprinten“ denen bei Tennisspielen. Es wird also eine situationsspezifische Umschalthandlung trainiert, die ständig zwischen Laufbeschleunigung und Bremsfähigkeit hin- und herschaltet und die Reaktionsschnelligkeit verbessern hilft.

Auch die für das Tennis wichtige Ballbeobachtung wird unkonventionell geübt. Auf den optischen Reiz der Ball- und Gegnerbewegung muß eine der Spielsituation angepaßte Reaktion erfolgen, deren gutes Gelingen abhängig ist von der Reaktionszeit und der Antizipationsfähigkeit. Martina Hingis macht zum Beispiel den Torwart beim Fußballspiel. Hier wird eine schnelle Reaktion beim plötzlich abzuwehrenden Schuß aufs Tor verlangt, wie sie auch beim Aufschlagreturn nötig ist.

Das spezifische Tennistraining sieht Melanie Molitor ebenfalls als einen offenen Prozeß. Mal läßt sie Martina in normalen Straßenschuhen mit glatter Sohle antreten, was den Schwierigkeitsgrad erhöht, den Körper im Gleichgewicht zu halten und dabei den Ball aus der Laufbewegung heraus gezielt zu schlagen. Oder sie spielt aus einem „Drei-Farben-Korb“ Martina Bälle zu, die sie je nach Farbe in bestimmte Zielgebiete schlagen muß, das heißt, sie muß sich stets neu orientieren. Oder sie spielt Martina unterschiedliche, also größere oder kleinere, leichte oder schwere Bälle im willkürlichen Wechsel zu, was eine differenzierte Schlagausführung erfordert. Oder es wird bilateral verfahren, das heißt mit zwei Schlägern links und rechts Vorhand und Rückhand geübt.

Melanie Molitor hat das Training in den Jahren des Aufbaus nahezu homöopathisch dosiert. Ein bis eineinhalb Stunden Tennis pro Tag im Sinne des polysportiven Trainings haben genügt, um einen großen Bewegungsschatz anzuhäufen. Daneben blieb immer noch Zeit zum Reiten oder für ganz normale Freizeitvergnügungen.

Der minimalistische Erziehungsgrundsatz des „Soviel wie nötig“ und „So wenig wie möglich“ hat sich sichtbar bewährt und Ermüdungserscheinungen oder Überdruß wie bei manch anderen jugendlichen Tennishoffnungen nicht aufkommen lassen. „Wir sind Freundinnen“, sagt Martina Hingis in einem Spiegel-Interview über das gute Verhältnis zu ihrer Mutter, unterstreicht aber zugleich ihr Bedürfnis nach Selbständigkeit: „Zu ein paar Turnieren werde ich bald auch alleine fahren.“ Und fügt hinzu, daß sie mit den anderen Spielerinnen „auf der Tribüne sitzen und diskutieren (will), wer der schönste Mann auf der Tour ist“.

Den Respekt der Kolleginnen verschafft sie sich auf dem Platz. „Sie kann unglaubliche Winkel schlagen, und ihre Longline-Bälle sind wohl die besten im Frauentennis“, sagte eine beeindruckte Steffi Graf nach ihrem Fünf-Satz-Sieg beim Masters 96 über den von Oberschenkelkrämpfen gestoppten Jungstar.

Martina Hingis ist eine Allrounderin: Sie fühlt sich an der Grundlinie genauso stark wie am Netz und kann sich überall auf dem Platz behaupten. Zwar hat sie keinen Gewinnschlag wie etwa Grafs Vorhand. Dafür verfügt sie über eine fast unbegrenzte Anzahl von Variationsmöglichkeiten. Sie trifft die Bälle gleichmäßig und sehr früh. Das gibt ihren Schlägen Leichtigkeit, da sie auf diese Weise die Kraft ihrer Gegnerinnen ausnutzt und sie zugleich unter Druck setzt – Martina Hingis, die Schweizer Gummiwand.

Sie beherrscht jeden Drall und schlägt gestochen scharfe Winkel- Volleys, versteht sich aber auch auf Stopp, Lob und Schmetterball. Sie antizipiert hervorragend, das heißt, sie kann zwei, drei Schläge vorausdenken, weiß jeden Zentimeter des Platzes auszunutzen und kann damit jede Gegnerin ermüden. Sie kann das Tempo nach Belieben variieren und besonders mit der beidhändigen Rückhand verdeckt schlagen. Martina Hingis ist nicht sehr groß, und deshalb zeigt der Aufschlag Schwächen, die aber technisch zu beheben sind.

Da der Rest „einfach nicht auf ihrem Niveau ist“, so Manager Damir Keretic, läßt sich für die nächste Zeit ein zähes Duell mit einer wiedergenesenen Steffi Graf um die Spitze erwarten, in das wohl höchstens noch Monica Seles eingreifen kann, die in Key Biscayne durch ein 3:6, 6:2, 6:3 gegen Irina Spirlea das Halbfinale erreichte. Mit der 15jährigen Russin Anna Kournikowa und der Amerikanerin Venus Williams (16) stehen allerdings Spielerinnen bereit, die schon in Bälde die Nachfolge von Seles und Graf als Konkurrentinnen von Martina Hingis antreten könnten. Der Generationswechsel ist angesagt.