Triumph des Ungeschicks

Mit dem Gewinn der Fußballweltmeisterschaft in Bern 1954 wurde Sepp Herberger zur Legende. Er war auch ein politischer Taktiker. Morgen wäre er 100 Jahre alt geworden  ■ Von Lothar Mikos und Harry Nutt

Kurz vor seinem Tod, im Frühjahr 1977, beschlich die große Legende des deutschen Sports, den charismatischen Fußballehrer Josef Herberger, eine Spur von Kulturpessimismus. „Mit dem Fußball“, sinnierte der 80jährige, „geht es wahrscheinlich dem Ende zu.“ So habe es auch im alten Rom angefangen. „Die Zeichen des Verfalls sind nicht zu übersehen.“ Am Ende hatte der „Weise von der Weinstraße“, wie er gern genannt wurde, geirrt. Fußball gibt es noch immer. Wirtschaftlich geht es dem Branchenführer der Körperertüchtigung besser denn je, und politische wie kulturelle Anerkennung sind den Balltretern gewiß. Es sind nicht gerade wenige, die Herbergers einfache Sätze wie „Der Ball ist rund“ und „Das nächste Spiel ist immer das schwerste“ in vollem Besitz ihrer geistigen Kräfte mit existentialistischen Großdenkern verglichen haben.

Sepp Herberger, der morgen 100 Jahre alt geworden wäre, würde seine pessimistische Vision vom Fußball vermutlich eher bestätigt als widerlegt sehen. Mit dem postmodernen „ran“-Spektakel könnte ein konservativer Fußballbesessener wie er nichts anfangen. Daß ein gefräßiger Materialismus auch seinen geliebten Sport verzehrte, war Herbergers Befürchtung schon kurz nach dem Weltmeisterschaftstriumph von 1954, der in vielerlei Hinsicht die Geburtsstunde der Bundesrepublik symbolisierte. Das Wort vom Wirtschaftswunder ist eng mit dem Fußballsieg von 1954 verbunden, der Herbergers einziger großer sportlicher Erfolg war. Herbergers herausragende Bedeutung für die Bundesrepublik ist nicht nur eine sportliche, sondern auch eine kulturelle. Er gehörte demselben Jahrgang an wie Ludwig Erhard, und die Rede vom Wirtschaftswunder ist mit ihm kaum weniger verknüpft als mit dem Architekten der sozialen Marktwirtschaft.

Der Satz „Wir sind wieder wer“ war aber so stolz gesprochen nicht. Bei aller Freude über die Gewißheit des Erreichten drückt sich in ihm neben der Aufbruchstimmung jener Jahre auch die Erfahrung einer tiefempfundenen Identitätslosigkeit aus. Eben waren wir noch niemand. Der Titelgewinn war so gesehen einer im primären Wortsinn. Er verhalf unverhofft zu einer Anrede, die politisch weithin wahrgenommen wurde. Wenn 1954 die eigentliche Geburtsstunde der Bundesrepublik war, dann war sie eine Frühgeburt mit allzulautem Getöse. Man wollte sich nach dem Zusammenbruch, wie das Kriegsende im Jargon der Eigentlichkeit gern umschrieben wurde, still und heimlich wieder aufrichten. Ein Auftreten in diesem Sinne war die erste Bürgerpflicht der Fritz Walter, Helmut Rahn und Co. Herberger hatte seinen Spielern Bescheidenheit eingeimpft, und schon die Wahl des mit einem gewissen Jugendherbergscharme ausgestatteten Quartiers am Thuner See sollte dies ausdrücken. Auch in dieser Hinsicht war Herberger traditionsbildend. Noch immer wird beim Deutschen Fußball-Bund viel Mühe auf die Auswahl des jeweiligen Aufenthaltslagers in der Fremde verwandt, auch wenn inzwischen mehr auf die Luxusbedürfnisse der Jungmillionäre eingegangen wird. Damals war man schon froh, im Konzert der Großen wieder mitspielen zu dürfen. Ein Weltmeister aber kommt mit Hymne und Fahne, das mußte zu Konflikten führen. Der Gewinn der Weltmeisterschaft war denn auch zu keiner Sekunde als Unternehmen zur Aufrichtung des deutschen Selbstwertgefühls geplant gewesen. Es hatte sich eher zufällig so ergeben. Der große Stratege Herberger, mit all seiner List, war in letzter Konsequenz bloß ein glücklich Siegender. In dem Bemühen, gute, angepaßte Deutsche abzugeben, war der Mannschaft Herbergers gewissermaßen das Ungeschick widerfahren, sich mit einem lauten Knall in Szene zu setzen. Der Gewinn der Fußballweltmeisterschaft war das Produkt einer Überanpassung. Das war das ganze Geheimnis und die Pointe des Erfolges. Man hatte es nicht gewollt.

Herberger als Ikone der Bundesrepublik ist das eine, seine Lebensgeschichte das andere. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen in der Mannheimer Arbeitervorstadt Waldhof auf. Nach dem frühen Tod des Vaters mußte er zum Unterhalt der Familie mit beitragen. Fußball, in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts eher ein Sport der Mittelklasse, bot für einen wie Herberger die Chance zu sozialem Aufstieg. Schon vor Ende seiner erfolgreichen Spielerkarriere ergriff er den Trainerberuf, in dem er unter den Nazis rasch Karriere machte, zunächst als Assistent von Reichstrainer Otto Nerz und ab 1938 in Eigenverantwortung. Das verlangte Anpassungsvermögen und ausgeprägtes Selbstbewußtsein. Herberger besaß beides. Noch im wilhelminischen Kaiserreich geboren, wurde er von dem politischen Leben der Weimarer Republik mehr gestreift als geprägt. Es habe hier und da wohl kleine Grenzverletzungen gegeben, sagte Herberger später zu seiner Tätigkeit im nationalsozialistisch dirigierten Fachamt Fußball. In die NSDAP sei er eingetreten, wie man zuweilen in einen Verein eintritt.

Eine herausragende Persönlichkeit der deutschen Nachkriegsöffentlichkeit wurde Herberger, nicht obwohl, sondern weil er bereits während des Dritten Reichs eine feste Größe war. Er verkörperte den guten Deutschen, der unter den Nazis charakterliche Tugenden nicht preisgegeben hatte. Josef Herberger bewies Haltung, wer immer auch gerade regierte. Der Unpolitische war ein politischer Taktierer. Herberger, so schien es, hatte immer nur im Universum des Balls gelebt. Ein Nachleben in Sprüchen und Anekdoten wäre ihm wohl das liebste gewesen. Dabei ist sein pralles Fußballeben eine ziemlich deutsche Geschichte.

Zu Sepp Herberger sind aktuell erschienen: Lothar Mikos/Harry Nutt: „Als der Ball noch rund war“, Campus-Verlag; Jürgen Leinemann: „Herberger. Ein Leben, eine Legende“, Rowohlt Berlin; Karl-Heinz Schwarz-Pich: „Der Ball ist rund“, Regional-Verlag