Die Unmusikalischen spielen Schach

Geiselalltag in der Residenz des japanischen Botschafters in Lima: Klo putzen, Vokabeln büffeln und Bücher lesen. Strom gibt es nicht im Haus. Die Nachtruhe beginnt deshalb um 21 Uhr  ■ Aus Buenos Aires Ingo Malcher

Ob Botschafter oder millionenschwerer Geschäftsmann, jeder kommt irgendwann einmal an die Reihe, das Klo zu putzen. In der besetzten Residenz des japanischen Botschafters in Lima ist die Hausarbeit Gemeinschaftsaufgabe. Das jedenfalls glauben Lokalzeitungen in Lima zu wissen, die über die alltägliche Seite des Geisellebens berichten.

Die Freizeitangebote sind spärlich, und viel Bewegungsfreiheit haben die Geiseln trotz des recht geräumigen Hauses nicht. Manche von ihnen sollen deshalb schon über Gewichtsprobleme klagen. „Einige beginnen den Tag mit Gymnastik, machen Klappmesser und andere Übungen“, erzählt der Rotkreuzvertreter Steven Anderson. Um die Residenz sauberzuhalten, müssen die Geiseln regelmäßig zu Schrubber und Putzlappen greifen. Doch ist der Erfolg wohl nur mäßig. Fotografen, die in der Residenz waren, berichteten von einem unerträglichen Gestank im Inneren des Gebäudes.

Dreimal am Tag fährt der weiße Lieferwagen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) an der Polizeiabsperrung vor, um Essen zu liefern. Die fertigen Menüs haben die besseren Restaurants von Lima zubereitet. Die Rechnung geht an die japanische Botschaft. Wer wissen will, was aufgetischt wurde, muß den lokalen Boulevard-Fernsehsender Frequencia Latina sehen. Live von der Residenz: „Heute gab es Rindfleisch mit Brokkoli und Kartoffelpüree.“ Einige Geiseln haben ihre wochenlange Gefangenschaft zu einem Kochkurs genutzt. Der japanische Chefkoch Toshiro Konishi berichtete nach seiner Freilassung stolz, er habe Politiker, Manager und sogar einige MRTA-Mitglieder in der Zubereitung japanischer Gerichte unterrichtet. Einige peruanische Gefangene büffeln japanische Vokabeln und bringen im Gegenzug ihren japanischen Kollegen Spanisch bei. Abends können Nachbarn der Residenz den Geiseln sogar öfter mal beim Singen zuhören. Zu diesem Zweck hat der Opus-Dei-Bischof Juan Luis Cipriani zwei Gitarren in die Residenz mitgebracht. Die Unmusikalischen spielen zur selben Zeit Schach.

Ganze Kisten mit Büchern haben sich die Geiseln bestellt, eine Buchhandlung in Lima hat den Lesestoff prompt kostenlos geliefert. Freigelassene berichten auch von intensiven Gesprächen zwischen MRTA-Mitgliedern und Geiseln. Dabei gehe es nicht immer nur um Politik, sondern auch um Fußball oder das eigene Leben. Außerdem organisieren die Geiseln Vorträge und Diskussionsgruppen. Thema ist das, worin sich jemand auskennt. Daher standen schon des öfteren Archäologie oder Erdbeben auf dem Themenplan.

Das IKRK macht sich für die Geiseln regelmäßig zum Briefträger. Im Büro des IKRK in Lima können Freunde und Angehörige Briefe und saubere Wäsche für die Geiseln abgeben. Umgekehrt befördert das IKRK die Briefe der Geiseln aus der Residenz. Strom gibt es in dem Haus nicht. Den haben die peruanischen Behörden schon frühzeitig abschalten lassen. Von daher ist schon gegen neun Uhr abends Nachtruhe angesagt. Nur der Weg zu den Toiletten ist mit Kerzen ausgeleuchtet.

Für eine einigermaßen erträgliche Nachtruhe ist auch gesorgt. Dank der Spende eines örtlichen Matratzengeschäfts haben alle Geiseln ihre eigene Matratze. Der Großteil der Geiseln ist im ersten Stock der Residenz in insgesamt acht oder neun Räumen untergebracht.

Nach den spärlichen Auskünften der Ärzte ist keine der Geiseln entmutigt. Symptome wie geschwollenes Zahnfleisch, Haarausfall und Hautausschläge seien typisch für Streßsituationen. Die einzige Geisel mit schweren Gesundheitsproblemen ist der Präsident des Obersten Gerichtshofes in Peru, Moises Pantoja, der an einer schweren Herz- und Nierenkrankheit leidet. Das IKRK liefert regelmäßig Medikamente. Von Bedeutung für die verbliebenen 72 Geiseln ist der Kontakt nach draußen. Auf eine vorzeitige Freilassung, so die MRTA, könne nämlich keiner mehr hoffen.

Inwieweit die Geiseln über den Stand der Verhandlungen informiert sind, ist unbekannt. Zu ihren schlimmsten Ängsten zählt gewiß die Unberechenbarkeit Präsident Fujimoris. Quälender ist da nur noch die Ungewißheit.