Bei Europa hört die Gastlichkeit auf

Der türkische Ministerpräsident Erbakan bereitet Bundesaußenminister Kinkel einen rüden Empfang. Grund ist die Ablehnung der Europäischen Union, die Türkei aufzunehmen  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Daß die gestrigen Gespräche von Klaus Kinkel in Ankara keinen Ausweg aus der deutsch-türkischen Krise weisen werden, war schon vor der Ankunft des Bundesaußenministers klar. Beinahe hätte Kinkel in letzter Minute die Reise abgesagt. Grund: Der türkische Ministerpräsident Necmettin Erbakan hatte am Dienstag in einer Fraktionssitzung verbal auf den deutschen Außenminister eingedroschen. Die Europäische Union habe ihre Zusagen an die Türkei nicht eingehalten, das Recht auf Freizügigkeit ebensowenig wie die Finanzhilfen im Rahmen der Januar 1996 in Kraft getretenen Zollunion. „Sie müssen ihr Haupt senken“, donnerte Erbakan und: „Kinkel wird das zu spüren bekommen.“

Erst nach einer Erklärung des türkischen Außenministeriums, Erbakans Kritik habe sich nicht gegen Kinkel persönlich gerichtet, sondern gegen die EU im allgemeinen, trat Kinkel die Reise an. „Das war kein freundlicher Empfang“, sprach er in Ankara: „Niemand von den Europäern braucht hier voll Scham und gesenkten Hauptes auftreten.“ Die türkischen Politiker sollten sich fragen, ob sie mit ihrer „Megaphondiplomatie“ richtig lägen.

Die Episode ist typisch für die Art und Weise, wie türkische Politiker die Auseinandersetzung um die EU-Vollmitgliedschaft der Türkei führen. Die Türkei ist bitter enttäuscht. Seit dem Assoziierungsabkommen von 1963 hat das Land immer wieder vergebliche Anstrengungen in Richtung Vollmitgliedschaft unternommen.

Trotz erheblicher wirtschaftspolitischer Risiken trat die Zollunion mit der EU in Kraft. Die Türkei ist damit das einzige Land, das, ohne Mitglied der Gemeinschaft zu sein, die Zölle gegenüber der EU abgeschafft hat. Während Länder wie Slowenien, Rumänien und Bulgarien EU-Beitrittskandidaten sind, kämpft die Türkei darum, als Mitglied der „Europa- Konferenz“ anerkannt zu werden – einem noch zu bildenden Gremium für EU-Anwärter.

Die EU-Vollmitgliedschaft spielt in der Türkei eine zentrale innenpolitische Rolle. Sie bedeutet die Anerkennung des westlichen und säkularen Kurses, den die 1923 gegründete Republik eingeschlagen hat. Türkische Unternehmerverbände, Gewerkschaften, Parteien, Berufsverbände und Universitäten machen für die EU-Mitgliedschaft mobil. Sie bringen den Wunsch der überwältigenden Mehrheit der Türken zum Ausdruck, zu Europa zu gehören. Selbst der Islamist Erbakan mußte im Koalitionsprotokoll versprechen, alles für eine EU-Mitgliedschaft der Türkei zu unternehmen.

Die Hoffnung auf EU-Mitgliedschaft erhielt nicht zuletzt beim Gipfeltreffen der christdemokratischen Regierungschefs Anfang März in Brüssel einen Tiefschlag. „Mir ist nicht bekannt, daß Anatolien Teil Europas ist“, wurde Bundeskanzler Helmut Kohl anschließend zitiert. Von einem „Zivilisationsprojekt Europa“ sprachen die konservativen Regierungschefs und machten deutlich, daß die Türkei nicht dazugehöre. Solche Sprüche nähren den Verdacht vieler Türken, daß die EU ein „christlicher Club“ sei. Die Profiteure dieser schroffen Ablehnung sind die türkischen Islamisten.

Für Außenministerin Tansu Çiller, die sich vor den Nationalwahlen im Dezember 1995 bei den Europäern anbiederte, sie sei die einzige Garantie, um den „Fundamentalismus zu verhindern“, und die heute mit den Islamisten koaliert, ist die Frage der EU-Mitgliedschaft eine politische Überlebensfrage. Mit Drohungen, die Osterweiterung der Nato zu blockieren, falls die Türkei nicht in die EU aufgenommen wird, spielt sie die Rolle des Falken. „Wir sind Europäer. Wir sind die große Türkei, deren Freundschaft gesucht und deren Feindschaft gefürchtet wird“, polterte sie vor zwei Wochen. Çiller, die in Europa ungern gesehen ist, kann immer noch auf die Unterstützung der USA rechnen. Washington ist die geostrategische Rolle der Türkei im Nahen Osten wichtiger als EU-Kleinkrämerei. Die US-Regierung drängt daher die Europäer darauf, die Türken nicht zu brüskieren. Doch mit Ministerpräsident Erbakan und Außenministerin Çiller hat Kinkel die denkbar schwierigsten Gesprächspartner erwischt, um, ohne viel Unheil anzurichten, es bei vagen Versprechungen zu belassen. Beide müssen den Kinkel- Besuch an die türkische Öffentlichkeit verkaufen.