Frischekur für tiefe russische Seelen

■ Das „Moscow Art Trio“spielte am Donnerstag im Vegesacker KITO und krempelte sämtliche Klischees um

Die akustischen Globetrotter der Weltmusik haben die russische Volksmusik bisher weitgehend links liegenlassen. Und wer in seiner Jugend zwangläufig eine Überdosis von Ivan Rebroff und dem Don-Kosaken-Chor verpaßt bekam, kann dies nur begrüßen. Die Klischees von sentimental brummenden Bartträgern und der ach so tiefen russischen Seele schienen bisher übermächtig. Aber es ist wohl ein Grundgesetz der Künste, daß einige der originellsten Talente sich gerade die auf den Hund gekommenen Genres aussuchen, um sie radikal mit ihren eigenen, neuen und oft absonderlichen Ideen umzukrempeln.

Genau dies hat Mikhail Alperin, der Gründer und offensichtliche Maestro des „Moscow Art Trio“, mit der Folklore seiner Heimat gemacht. Die Basis seiner Musik sind traditionelle Gesänge und Tänze Rußlands, und sein Mitspieler Sergeij Starostin singt sie auch mit vielen Juchzern und Koloraturen, die frappierend an die vor einigen Jahren in Mode gekommenen Chorgesänge aus Bulgarien erinnern. Aber immer fährt Alperin mit seinen wilden, oft bizarren Improvisationen auf dem Piano, der Melodica oder einer High-tech Harmonica dazwischen, spielt so frei mit den Melodien und Rhythmen, wie dies nur im Jazz möglich ist, und entwickelt dabei das dramaturgische Gespür eines Theaterschauspielers. So stampft er auf die Holzdielen, pfeift und piept in schönster Harmonie mit seinen Mitspielern und mimt oft hemmungslos den großen Virtuosen am Flügel.

So bruchlos wie er und seine Band zwischen den Stimmungen und Spielformen wechseln, so vielseitig ist auch die Instrumentierung der Stücke. Starostin spielt verschiedene Flöten, die Klarinette oder verschieden gestimmte Ochsenhörner und schrabbt auch mal auf einer kleinen Zither. Arkady Shilkloper bläst zwar mit dem French- und dem Flügelhorn wenige Instrumente, aber er kann sowohl mit seiner erstaunlichen Überblastechnik mehrstimmig klingen, wie auch durch Zirkulationsatmung scheinbar endlos den gleichen Ton halten.

Es scheint, als habe sich Alperin absichtlich extrem gegensätzliche Mitspieler gesucht. Starostin (im Trachtenwams) hat Volksmusik studiert, Shilkloper (im feinen Zwirn) spielte lange im Ensemble des Bolschoi-Theaters im streng klassischen Stil. Dazwischen wirbelt Alperin (in Jeans und T-shirt) abenteuerlustig vom neo-romantischen Pianosolo zum rhythmischen Streitgesang, vom kurz angedeuteten Rock-Zitat zum Glockengeläut. So gelingt es dem „Moscow Art Trio“, das Publikum permanent zu überraschen. Kein Solo, keine Komposition entwickelt sich so, wie man es erwarten würde. Eine Entdeckung, diese postmodernen Weltmusikanten aus Moskau.

Wilfried Hippen