: Zwei Fremdsprachen und ein Eis
Wiedersehen nach fünfzig Jahren: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden 400 deutsche Kinder nach Irland evakuiert – nun feiern einige Überlebende mit ihren damaligen Pflegefamilien Wiedersehen ■ Aus Glencree Ralf Sotscheck
Da oben war mein Schlafzimmer“, sagt Friedhelm Krüll. Der kleine, schlanke Mann mit dichten schwarzen Haaren zeigt auf das alte Steingemäuer hinter dem grünen Drahtzaun. „Darunter lag die Küche.“ Die meisten Fensterscheiben sind kaputt, das Gebäude ist baupolizeilich gesperrt, lediglich die kleine Kirche nebenan und der gegenüberliegende Flachbau sind benutzbar. „Damals“, sagt Krüll, „war das hier ein Krankenhaus.“
Damals – das war 1947. Krüll war sechs Jahre alt, und er gehörte zu 400 deutschen Kindern, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Irland verschickt wurden, weil sie zu Hause verhungert wären. Die meisten gingen zwei, drei Jahre später zu ihren Familien nach Deutschland zurück, doch 50 von ihnen blieben. Die erste Station der Kinder, die an der sogenannten „Operation Shamrock“ teilnahmen, war Glencree in den Wicklow-Bergen, südlich von Dublin. Hier warteten sie darauf, an Pflegeeltern vermittelt zu werden.
Diese Woche kamen 160 von ihnen zum 50. Jubiläum der Operation Shamrock nach Irland zurück. Glencree hat sich verändert. Im ehemaligen Krankenhaus, ursprünglich eine britische Armeekaserne, ist seit 1975 das „Zentrum für Versöhnung“ untergebracht – eine irische Friedensinitiative.
„Ich war einer der letzten, die an Pflegeeltern vermittelt wurden“, sagt er. Krüll hat neun Brüder und eine Schwester. Seine Mutter hatte nach dem Tod ihres ersten Ehemannes dessen Bruder geheiratet, Friedhelm kam dazwischen zur Welt. Seine Mutter verloste die Irlandreise unter den Geschwistern. Seine Familie hat er in Irland nicht vermißt: „Hier mußte man keine Angst vor Bomben haben, und es gab regelmäßige Mahlzeiten.“
Die Operation Shamrock beruhte auf einer Idee der „Gesellschaft zur Rettung deutscher Kinder“, die am 16. Oktober 1945 in der Dubliner Shelbourne Hall gegründet worden war. Die Kinderärztin Kathleen Murphy, die zur Vorsitzenden gewählt wurde, sagte, man konzentriere sich auf deutsche Kinder, weil die am meisten Not litten und es eine Christenpflicht sei, ihnen zu helfen. Einige Mitglieder hatten jedoch Hintergedanken. „Feldwebel J. J. O'Byrne sagte, er unterstütze die Gründung der Gesellschaft wegen seiner prodeutschen Einstellung und seines Hasses auf Großbritannien“, schrieb die Irish Times damals. „Man müsse alles unternehmen, um den angelsächsischen Einfluß zu beenden, und zwar nicht nur hier, sondern überall.“ Ein anderer sagte, man stehe in der Schuld der Deutschen, weil die irische Unabhängigkeit nach dem Ersten Weltkrieg mit deutschen Waffen erkämpft worden sei.
Die Irland-Kinder waren fast alle katholisch
Der britischen Regierung war die Sache von Anfang an suspekt. Man hielt sie für eine faschistische Tarnorganisation und wandte sich lieber an das Rote Kreuz, das die Transporte organisieren sollte. Denn die meisten Kinder, die nach Irland kommen sollten, stammten aus dem britisch besetzten Nordrhein-Westfalen. Sie waren fast alle katholisch. Jüdische Kinder fehlten ganz: Man hielt es für zu schwierig, sie in einem katholischen Land großzuziehen.
Friedhelm Krüll wurde vor seiner Kommunion mit acht Jahren ein zweites Mal katholisch getauft. Seine Pflegeeltern, die Cotters, wollten auf Nummer Sicher gehen. „Wir haben von der Operation Shamrock damals im Radio gehört“, sagt Billie Cotter. Er hat ein rotes Gesicht, leuchtend blaue Augen, weiße Haare und einen mächtigen weißen Backenbart. Seine 80 Jahre sieht man ihm nicht an. „Wir wollten einen Jungen haben, der so alt war wie unser eigener Sohn.“ Der kleine Krüll habe viel Unfug angestellt, sagt Olive Cotter, die ein Jahr jünger ist als ihr Mann. Wenn sie von ihrem deutschen „Sohn“ erzählt, muß sie zwischendurch immer wieder lachen. „Einmal nahm er heimlich unser Scheckbuch und wollte damit Süßigkeiten kaufen. Aber er wußte nicht, daß man die Schecks ausfüllen muß, bevor man sie einlöst.“
Krüll sagt, er habe immer Glück gehabt: „Ich habe in meinem Leben nur nette Menschen getroffen.“ Er blieb fast zehn Jahre in Irland – länger als die meisten anderen Kinder. Eines Tages meldete sich die deutsche Botschaft und erklärte, seine Mutter wollte ihn zurück nach Deutschland holen. „Es war sehr schwer für uns“, sagt Billie Cotter, „er gehörte längst zur Familie.“ In Deutschland steckte ihn die Mutter zunächst für anderthalb Jahre ins Heim, weil sie nichts mit ihm anfangen konnte: Ihr Sohn sprach kein Deutsch mehr.
Heute spricht Friedhelm Krüll zwei Fremdsprachen: Deutsch und Englisch. „Als ich nach Irland ging, konnte ich kein Wort Englisch“, sagt er. „Als ich nach Deutschland zurück mußte, hatte ich mein Deutsch verlernt.“
Die alte Aine Kelly in dem kleinen Laden neben dem Eingangstor zum Versöhnungszentrum Glencree kann sich noch gut an die deutschen Kinder erinnern. „Ihr kamt immer in den Laden gestürmt, wenn euch jemand ein paar Pennies gegeben hatte, und wolltet Eis“, sagt sie zu Krüll. Der Laden sehe noch so aus wie früher, erzählt Krüll, nur die Eingangstür sei neu. Dahinter tritt man in einen winzigen Raum, in dem nicht mehr als zwei Kunden Platz haben. Hinter der Holztheke hängen ein paar braune Regale an der Wand, auf denen kleine Kartons mit Süßigkeiten und Limonade aufgestapelt sind. Auf dem Boden steht ein Kühlschrank mit Eis. „Mehr gibt es bei mir nicht“, lacht Aine Kelly, und dabei sieht man ein halbes Dutzend Zahnstummel in ihrem Mund. Sie trägt einen dicken Wollpullover, denn der Laden, den sie seit 1939 führt, hat keine Heizung. Dann steckt sie das Eis, das Friedhelm Krüll auch diesmal gekauft hat, in eine gebrauchte Papiertüte.
„Ist das nicht wunderbar“, sinniert Krüll. „Sie verkauft ihre Ware immer noch in gebrauchten Papiertüten. Wenn ich nach Irland komme, fühle ich mich zu Hause.“ Zweimal hat er versucht, ganz nach Irland zurückzugehen, doch die Baufirmen, die ihn eingestellt hatten, machten beide pleite.
Bei Hildegard Jones ist es umgekehrt. „Ich bin Deutsche, ich fühle deutsch, und ich denke deutsch“, sagt sie. Aber sie spricht kaum noch Deutsch. „Meine Pflegeeltern kappten sämtliche Verbindungen nach Deutschland und beschafften mir sogar einen irischen Paß“, sagt sie. „Sie haben mir dadurch nicht nur mein Vaterland und meine Sprache, sondern auch meine Würde genommen.“
In ihrem Haus in der Nähe des Flughafens im Norden Dublins wimmelt es nur so von Andenken aus Deutschland: ein Berlin-Aufkleber, ein Bierdeckel aus Köln, Münchner Bierhumpen, ein Deutschland-Wappen aus Metall mit sechs Haken, an denen Schnapsgläser hängen. In der Ecke steht ein Osterstrauß mit gelbgefärbten Ostereiern.
„Nur mit Mama kann ich noch deutsch reden“
Hildegard Jones ist während des Kriegs in Aachen aufgewachsen. Damals hieß sie noch Grabsch. Die Mutter war oft fort, Hildegard und ihre Schwester Marlene mußten dann ins Heim. „Heute weiß ich, wo sie damals war“, sagt Hildegard Jones. „Mein Vater war Offizier in der Luftwaffe, ein hundertzehnprozentiger Nazi, aber Mama war vollkommen gegen die Nazis eingestellt. Sie weigerte sich, die Sonderrationen für Offiziersfamilien anzunehmen, und Vater sorgte dafür, daß sie ins KZ in Berlin kam. Einmal ließ er sie verhaften, weil sie eine Jazzsendung im Radio eingeschaltet hatte.“
Nach dem Krieg schickte der Vater sie und ihre Schwester nach Irland. In Glencree wurden die Mädchen getrennt, Hildegard wurde von den Brannocks aufgenommen. Sie hatte Glück, Marlenes Pflegeeltern waren mit den Brannocks befreundet, und so kamen die Schwestern wieder zusammen. „Die Zeit bei den Brannocks gehört zu meinen schönsten Erinnerungen“, sagt Jones. Nach zwei Jahren mußte sie zurück nach Deutschland. Ihr Vater erstritt das Sorgerecht und unterband jeden Kontakt zur Mutter. „Er schlug mich andauernd“, sagt sie, „bis die Nachbarn die Polizei verständigten. Ich hatte am ganzen Körper blaue Flecken und rote Striemen. Er mußte für sechs Wochen ins Gefängnis. Danach wollte er nichts mehr mit mir zu tun haben und schickte mich wieder nach Irland.“ Die Brannocks waren aber jetzt zu alt, um sie erneut aufzunehmen, und so kam sie zu einer anderen Familie. „Die waren anders als die Brannocks“, erinnert sie sich. „Sie behandelten mich wie eine Sklavin. Nach meiner Arbeit in einem Geschäft mußte ich die Hausarbeit machen. Sie nahmen mir mein Geld ab, zum Tanzen durfte ich so gut wie nie.“
Einmal aber doch. Dabei lernte sie Frank kennen. Die beiden heirateten schnell, weil sie von ihren Pflegeeltern weg wollte. Sie bekam fünf Kinder und blieb in Irland. Die Nachforschungen nach ihrer Mutter hatten erst nach 20 Jahren Erfolg: Hildegard Jones fand sie in Berlin, wo sie eine Kneipe hatte. „Eigentlich war es keine richtige Kneipe“, sagt Hildegard Jones, „mehr so ein Club für ungezogene Mädchen. Die liefen da nackt herum.“ Sie besucht die Mutter seitdem regelmäßig. „Nur mit Mama kann ich deutsch reden, bei anderen Deutschen ist es schwierig. Die Sprache ist in meinem Kopf, aber sie kommt nicht aus dem Mund heraus.“
Den irischen Behörden war das Sprachproblem damals wohl bewußt. Deshalb schickte man die deutschen Kinder später nicht mehr zu Gastfamilien, sondern behielt sie sechs Monate in Glencree. Ein deutscher Lehrer unterrichtete sie, damit sie ihre Muttersprache nicht verlernten. Der Lehrer, Herr Buschmeier, ist auch zur Jubiläumsfeier nach Glencree gekommen. Er hat sein Fotoalbum mitgebracht und zeigt es Aidan Maher, dem Verwalter des Bauernhofes, der dem Krankenhaus damals angeschlossen war.
„Wie damals“, sagt Aidan Maher und rückt seinen grauen Filzhut zurecht, in den er eine kleine rote Feder gesteckt hat. Dann zieht er einen grauen Pappkarton aus der Hosentasche. Darin kommt eine blaue Schatulle mit dem Bundesverdienstkreuz zum Vorschein. Das hat er für die Pflege des deutschen Soldatenfriedhofs bekommen. Die rund 30 Grabkreuze der meist unbekannten deutschen Soldaten aus den beiden Weltkriegen ragen über der Hügelkuppe hinter dem Versöhnungszentrum hoch. Maher steckt die Schatulle umständlich in seine Tasche zurück. „Es ging damals zu wie im Zoo“, sagt er zu Friedhelm Krüll. „Am Wochenende kamen die irischen Familien und begafften euch, und manchmal steckten sie euch sogar eine Orange zu.“ Und Krüll antwortet: „Noch heute muß ich jedesmal an Irland denken, wenn ich eine Orange esse.“
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