■ Der Intellektuelle als Moralinstanz ist passé. An seine Stelle rückt der Selbstdenker im Getümmel der Wirklichkeit
: Hoher Priester und Sokrates

Mit Martin Walser wurde diese Woche noch einmal die Ikone des omnipräsenten Intellektuellen verehrt. Zwar will Walser nicht mehr zu dieser Zunft gehören, die er „die praxisloseste Kirche, die es je gegeben hat“ nennt, trotzdem nutzte er die Chance, sich zum 70. Geburtstag in mehr als einem Dutzend Interviews leitartikelnd über das Große und Ganze zu verbreiten. Merkwürdig, daß die Feuilletons in Walser weniger den Dichter sehen wollen und lieber nach der Übersicht des Gottähnlichen verlangen.

Eine andere Inszenierung dieser verschwindenden Spezies, der Großintellektuellen, nicht gebrochen wie Walsers last walz, sondern bestürzend steif, selbstgerecht und moralisch, ist Günter Grass' Rede „Über den Standort“, die jetzt der Steidl Verlag gedruckt hat. Ein trauriges Dokument des Beharrens. Grass setzt dem Standortgerede seinen unerschütterlichen und besserwisserischen Standpunkt entgegen. Er dämonisiert den Kapitalismus, der in der Sprache dieser Rede „man“ heißt: „Man will Geschäfte machen.“ „Der Mafia ist man über Geldwaschanlagen verbunden.“ Und was Sekten betrifft, „findet man sich häufig genug mit ihnen auf einer Wellenlänge“.

Kapitalismus ist, seit Marx könnte man es wissen, der prozessierende Widerspruch und jedenfalls keine aparte Person. Von Grass wird er allerdings zum ebenso eindeutigen wie anonymen Megasubjekt stilisiert. Da sind alle Katzen grau, und einsam leuchtet nur der Wissende.

Wie gerufen kommt dieser Art Kritik – nein, nicht Kritik, denn Kritik heißt doch Unterscheidung –, kommt dieser selbstgewissen Sorgenagitation der Auftritt der global player, wie sich die großen Banken selbst nennen. Sie tun in der Tat so, als sei die Welt der Sandkasten für ihre Gewinnspiele. Aber der Gewißheitsgewinn, den sich Leitartikler auszahlen – „Jetzt wissen wir definitiv, wer die Macht im Lande hat“, kommentierte die Frankfurter Rundschau –, und ihre triumphale Geste zeigen, daß sie noch der gleichen Formation angehören wie die Kritisierten. Sie verbindet der heimliche Glaube an die Macht des Fädenziehens. Dabei wußten doch die Listigen aller Zeiten, daß Machtfiguren in dem Augenblick ohne Kleider dastehen, in dem das Publikum nicht mehr an sie glaubt.

In dieser Woche, in der wir ein Aufbäumen der fast schon verschwundenen Intellektuellen beobachten, wurde ein bemerkenswertes Projekt zur Renaissance eines anderen Typus von Intellektuellen gestartet. Der Soziologe Ulrich Beck bringt bei Suhrkamp eine neue Buchreihe heraus, die Edition Zweite Moderne. Mit Beck mischt sich ein Intellektueller ein, der vom einsamen Hochsitz herunter steigt und sich ins Getümmel der unbekannten Realität begibt wie weiland Sokrates. Der tanzende und balancierende Selbstdenker ist nicht dauernd auf der Suche nach dem Déjà-vu mit seinem Standpunkt. Entschädigt wird er dafür mit der Leuchtkraft seiner Paradoxien: „Demokratie“, schreibt Ulrich Beck in seinem neuen Buch „Kinder der Freiheit“, „ist die ungewollte Nebenwirkung der Versuche, sie aufzuhalten.“

Moderne hieß emphatisch ja immer schon, daß die Menschen sich aus der Tradition lösen und ihre Welt erfinden. Aber für die meisten fand die Moderne in Fabriken statt und wurde, wie der Altmeister der Soziologie Max Weber schrieb, „ein ehernes Gehäuse der Hörigkeit“. Dieser Käfig, dessen Sicherung und Vergoldung das Hauptziel des westlichen Konsumismus wurde, zerbricht. Und nun entstehen gleichermaßen Unsicherheit und die Chance, daß die Gesellschaft eine neue Balance aus Sicherheit und Unsicherheit finden muß.

Das Programm der ersten Moderne versprach materielle Sicherung, soziale Sicherheit und Entlastung von Politik. Mit dem Ergebnis einer reduzierten, unpolitisch gewordenen Politiker-Politik, an deren Ende, wie Beck meint, ein neues Gespenst durch Europa geistert, „die Angst vor der Freiheit“.

Intellektuelle – wenn wir diesen Begriff in Ermangelung eines besseren noch benutzen – werden künftig jene sein, die wieder die Politisierung der Politik betreiben. Und die findet weniger auf ausgeleuchteten Bühnen statt als im Halbdunkel des Alltags und den Kapillaren jener Selbstversuche, die Ulrich Beck das „Eigene Leben“ nennt. Diese Politik wird in Institutionen und in Unternehmen beginnen, nicht in erster Linie in deren Zentralen, aber auch dort.

Vor allem steht ein neues Bündnis an, ein Bündnis zwischen den „Kindern der Freiheit“, also Jugendlichen, die die „Tugend der Orientierungslosigkeit“ entdecken (so Johannes Goebel auf der Debattenseite der taz am 8.3.), und jenen Intellektuellen, die sich in der risikoreichen Erneuerung durchs Denken üben. Denn der politische Atheismus der Jugend ist vor allem ihre Abscheu vor einer entpolitisierten Politik. Aufschlußreich sind dazu die Abschnitte im ersten Band der Edition Zweite Moderne über die „Kinder der Freiheit“, die ein breites, aber nicht mehr aufopferndes Engagement zeigen, „in dem das Ich erhalten bleibt“. Wie nah bei Jugendlichen Rückzug und Aufbruch nebeneinander liegen, machen auch die erstaunlichen Ergebnisse der „Shell-Jugendstudie“ deutlich. (Sie wird am 13. Mai veröffentlicht.)

Ulrich Beck erinnert an das Bild der „Schwalbe vor dem Sommer“, was ihn vielleicht zuweilen zu der Annahme verleitet, er sei der einzige Vogel weit und breit, und manchmal scheint es, er tröste sich mit Optimismus. Aber Zuversicht und auch die Lust daran, aufs Gelingen zu setzen statt auf den nicht unwahrscheinlichen Mißerfolg, ermöglichen ihm, ein Agent der Neugierde zu werden. Von solchen haben wir zu wenige.

Die neuen Intellektuellen müssen ihre Rezensentenpose ablegen. Sie müssen Anfänger eines ungeschützten Brainstormings werden und ungewöhnliche Bündnisse schließen. Das gemeinsame Papier von Hubert Kleinert von den Grünen und Siegmar Mosdorf, SPD, „Renaissance der Selbständigkeit“, diese Woche im Spiegel veröffentlicht, ist ein solcher Anfang. Bei allen Debatten um die Politisierung der Politik und um eine Renaissance der Intellektuellen fällt der Blick auf Hannah Arendt. Sie schrieb: „Jeder neue Anfang wird zum Wunder, wenn er gesehen und erfahren wird vom Standpunkt der Prozesse, die er notwendigerweise unterbricht.“ Das Wunder von Geburt und Auferstehung ist ja kein schlechter Mythos, wenn man die Auferstehung nicht den Göttern, diesseitigen oder jenseitigen, überläßt und wenn die Auferstehung keine Vorstufe zur Himmelfahrt ist. Reinhard Kahl