„Datscha-orientierte Kartoffelbauern“

■ Eine Umfrage beweist: Die RussInnen sind reicher, als sie zugeben. 62 Prozent besitzen sogar eigenen Grund und Boden

Moskau (taz) – Der Widerspruch ist für das westliche Ausland schlicht unfaßbar. Fast jede russische Familie leidet darunter, daß Lohn oder Rente über Monate nicht ausgezahlt wurden. Und dennoch prägt der Siegeszug des Kommerzes das Antlitz aller Großstädte, von Moskau über Jekaterinenburg bis Wladiwostok. Was gestern noch ein Schnapskiosk war, ist heute schon ein richtiges kleines Gemischtwarengeschäft, in dem sich neugierige KäuferInnen aus allen Schichten tummeln. „Rußland von innen“, eine dickbäuchige Marktstudie der unabhängigen „Russian Market Research Co“, die in dieser Woche in Moskau erschien, beweist: Die RussInnen sind „reicher“, als sie zugeben, sie finden das Nichtbezahlen von Steuern toll und halten die Miliz für krimineller als die Mafia. Unerwartetes Nebenprodukt der Umfrage: Die RussInnen besitzen über eine Million Papageien.

Ein Durchschnittshaushalt hat der Studie zufolge monatlich umgerechnet 350 bis 370 Mark zur Verfügung, etwa 150 Mark mehr als nach offiziellen Angaben. Unter den Einnahmequellen, die den Lebensstandard der russischen KonsumentInnen heben, spielt Immobilienbesitz eine wesentliche Rolle. Den MoskauerInnen wird von Neidern ohnehin nachgesagt, daß sie das Arbeiten verlernen, weil sie ihre privatisierten Stadtwohnungen an zahlungsfreudige AusländerInnen vermieten und selbst auf die Datscha ziehen. Ein Grundstück auf dem Lande besitzen sage und schreibe 62 Prozent aller RussInnen. 57,4 Prozent aller Haushalte bauen ihre eigenen Kartoffeln an. Als „Datscha-orientierte Kartoffelbauern“ bezeichnet die Studie jene glücklichen 26,5 Prozent, die sogar drei Viertel ihrer Nahrungsmittel selbst produzieren. Glück bringt Grundbesitz, aber nur in Stadtnähe. Zur Kategorie der „abgeschnittenen immobilen Dörfler“ gehören 12 Prozent der Befragten. Sie sind ebenso schlimm dran wie die 19,2 Prozent der „depressiven Kartoffelkäufer“, bei denen sich zu fehlender beruflicher Qualifikation der Mangel an Landbesitz gesellt. Was aber den 1. Mai betrifft, so haben sich die russischen Gewerkschaften damit das denkbar schlechteste Datum ausgewählt, um ihre „Aktion des nationalen Protestes“ wiederaufzunehmen. Am Maifeiertag setzen die RussInnen traditionellerweise ihre Kartoffeln. Barbara Kerneck