„Ficken macht fröhlich“

Gesichter der Großstadt: Die „primäre Tabubrecherin“ Helga Goetze ist 75 Jahre alt geworden und denkt nicht dran, nicht mehr ans Ficken zu denken  ■ Von Barbara Bollwahn

Man muß sie nicht lieben, die „primäre Tabubrecherin“ Helga Goetze, die seit fast fünzehn Jahren das Wort „ficken“ in inflationärem Ausmaß einsetzt. Man muß die Frau, die kürzlich 75 Jahre alt geworden ist, auch nicht verstehen. Doch dafür, daß sie dem „Staat aus der Vorschrift springt“, hat sie zumindest Anerkennung verdient.

Am Anfang fügt sich Helga Goetze geradezu musterhaft ins gesellschaftliche Räderwerk: Mit zwanzig Jahren heiratet sie, in vierzehn Jahren bringt sie fünf Töchter und zwei Söhne zur Welt. 25 Jahre lang ist Helga Goetze Totalgattin – und total unbefriedigt. Trotz der hohen Fortpflanzungsquote klagt Helga Goetze über ihr Sexualleben. Sie sei nichts weiter als ein „totgemachtes Loch“ gewesen. Ihr Körper, so schreibt sie in ihren Aufzeichnungen, „schreit nach dem süßen Trank, dem Fluidieren, dem Fluß der Sexualität“.

Mit 47 Jahren bricht sie aus: Auf einer Italienreise anläßlich der Silberhochzeit lernt sie Giovanni und mit ihm die Liebe, die körperliche, kennen. Als sie das erste Mal fremdgegangen ist, sei sie das erste Mal bei sich gewesen. Mit dem Einverständnis ihres zwölf Jahre älteren Gatten, dessen Penis sie in all den Ehejahren nicht einmal zu Gesicht bekommen hat, lebt sie ihre Lust mit dem Italiener aus. Durch die Begegnung mit dem Mann aus Palermo sei sie zur „größten Dichterin“ geworden.

Rasant geht die Selbstfindung von Helga Goetze voran: Zwei Jahre lang sucht sie – mit dem Einverständnis ihres Gatten – per Anzeigen „Begegnungen in Körper, Geist und Seele“. In der Hippiekommune von Sexguru Otto Mühl zieht sie sich das erste Mal vor wildfremden Leuten nackt aus. Ihr Auftritt in einer Talkshow 1973 zum Thema „Hausfrau sucht Kontakte – ein Skandal“ kostet ihren Mann, von dem sie da mittlerweile geschieden ist, den Job. Die Deutsche Bank schickt ihn vorzeitig in den Ruhestand. Von ihren sieben Kindern melden sich nur zwei Töchter gelegentlich bei ihr.

Vor über zehn Jahren griff sie zu Nadel und Faden und stickte „Ficken macht friedlich“ auf eine Fahne. Seitdem steht sie mit diesem Motto an der Gedächtniskirche und hält ihre Mahnwache. Ob anfängliche Probleme mit der Polizei, ein Test in der Bonhoeffer- Nervenklinik und immer wieder Beschwerden von Passanten – die 75jährige liebt es, die anderen zu provozieren.

Wenn Helga nicht spricht, sieht sie aus wie eine liebe Großmutter: wache, braune Augen, die das Gegenüber mal lieb, mal neugierig anschauen, leicht gerötete Backen, weiße, feine Haare. Das rechte Ohr, das sich nicht wie das linke an den Kopf schmiegt, sieht aus, als sei es mit Absicht so abstehend gewachsen. Doch in der Wohnung von Helga Goetze in der Schlüterstraße in Charlottenburg wird schnell klar, daß hier keine Oma aus dem Märchenbuch wohnt. An allen Wänden hängen gestickte und gemalte Bilder, die von Mösen und Schwänzen dominiert werden. Ob Märchenmotive oder mythologische Symbole – Helga Goetze attackiert ihre Familie und die Gesellschaft auch mit Nadel und Faden. Da wird ihre Mutter, die ihr verbot, den Schwanz ihres Bruders zu berühren, in einer Kirche geschlachtet. Auf einem anderen Bild ist eine Scheune zu sehen, „wo wir oben ficken und unten Feste feiern“. Derzeit werden Stickereien von ihr im Rahmen einer Wanderausstellung über Prostitution in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern gezeigt. Was ihre Bilder mit Prostitution zu tun haben? „Na, hör mal“, ruft sie empört, „jede Ehefrau ist doch eine Prostituierte!“

Ein Bild trägt den Titel „Ich bin so allein“. Helga Goetze springt auf ihren Wollsocken durchs Wohnzimmer und ruft mit spitzer Stimme: „Ich bin so allein! Ich bin so allein!“ Sie macht es einem nicht leicht, ihr zu folgen. „Die Leute gucken mich immer an, als ob ich nicht ganz dicht wäre“, sagt sie und schüttelt den Kopf.

Das Sticken hilft Helga Goetze über die Einsamkeit hinweg. Abgesehen von gelegentlichen Fernsehauftritten, einer Rolle in Rosa von Praunheims Film „Rote Liebe“ und diversen Presseveröffentlichungen älteren Datums ist es trotz ihrer lautstarken Mahnwachen eher still um sie. Sexuell leisten ihr zwei junge Lover Gesellschaft, die seit vielen Jahren zu ihr kommen, wie sie erzählt. Einer davon sei der 36jährige Ehemann ihrer besten Freundin. Bei ihr hole sich der Ehemann seine Orientierung. Und wo orientiert sich Helga Goetze? „Ich mache es doch auch nur den Männern recht“, sagt sie und klingt gar nicht mehr schrill. Wie das? Weil die Männer ihren Körper, der wie ein Instrument sei, nicht spielen könnten.

Was Helga Goetze will? Die Frage allein empfindet sie als Ausdruck einer „Gehirnwäsche“. „Ich will eine neue Gesellschaft, in der es Klöster mit Ficken gibt“, ruft sie mit spitzer Stimme. „Das Leben ist Arbeit“, erklärt sie leicht genervt. „Das sollt Ihr langsam lernen. Und ficken ist Arbeit.“ Helga Goetze ist nicht mehr zu bremsen. „Ich interessiere mich nur fürs Ficken“, ruft sie wie ein bockiges Kind, das sich die Mengen an Pommes und Cola von niemandem vorschreiben lassen will. Wie oft sie denn...? „Ob ich das kriege“, fällt sie dem Fragesteller ins Wort, „ist was anderes.“

In einem ihrer Gedichte schreibt Helga Goetze: „Ich schreie und stehe am Rande. Das finden sie niedlich und lobenswert: Folklore für die Besucherbande. Nur wenn ich mich mit Benzin übergieße und brenne und störe das Treiben, dann werden sie eine Minute lang nachdenklich stehenbleiben.“

Ob man Helga Goetze versteht oder nicht, ist eigentlich egal. Ihr selbst am allermeisten. „Andere sollen mich nicht verstehen“, sagt sie. „Ich will ficken.“