Cetin, Abdullah, Mahir, Döne und die anderen

■ In der Türkei geraten immer mehr Kinder und Jugendliche in den Frontenkrieg zwischen Regierung und PKK: Sie werden gefoltert oder "verschwinden" einfach

Nach einem im November 1996 von amnesty international veröffentlichten Report („Turkey: Children at Risk of Torture, Death in Custody and ,Disappearance‘“) nehmen die Fälle von Folter und Mißhandlung von Kindern in türkischen Gefängnissen zu. „Kinder von 12 Jahren aufwärts werden schon bei Verdacht auf kleinere Vergehen inhaftiert und mit entsetzlicher Grausamkeit behandelt“, heißt es da.

Kinder, so behaupten die Autoren, sind in dem langjährigen Krieg, den sich Regierung und Armee mit der Kurdischen Arbeiterpartei PKK liefern, „zum neuesten Ziel beider Seiten“ geworden. Türkische und kurdische Jugendliche werden aufgrund fadenscheiniger Verdächtigungen als „Mitglied einer terroristischen Vereinigung“ verhaftet und gefoltert; andere sind „verschwunden“ und in Polizeigewahrsam gestorben, und nur selten gibt es Versuche, die schuldigen Polizisten auch zur Verantwortung zu ziehen.

Die Türkei, deren Unterschrift unter der UN-Konvention über die Rechte von Kindern (1995) steht, hat die Beschuldigungen von amnesty zurückgewiesen und dementiert, daß von Regierungsseite „nichts unternommen (würde), um der Gewalt ein Ende zu bereiten“. Die Behauptungen von amnesty international wurden jedoch von Onder Ozcalipci bestätigt, einem Mitglied der vor zehn Jahren zur Unterstützung von Opfern staatlicher Gewalt gegründeten Organisation Human Rights Medical Foundation.

Er sagt: „Die Berichte über Folter nehmen zu. Zwar sind die meisten Opfer Erwachsene, aber im vergangenen Jahr sind mindestens 60 Kinder von türkischen Polizisten gefoltert worden, das sind mehr als doppelt so viele wie im Jahr zuvor.“ Und er fügt hinzu: „In unserem Land wird systematisch gefoltert.“ Seine Stiftung veröffentlicht einen Jahresbericht, in dem alle von ihr gesammelten Fälle zusammengefaßt werden. Hier einige von ihnen:

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Abdullah Salman lebt in Instanbul. Als 13jähriger arbeitete er in einem Geschäft. Eines Tages behaupteten seine Arbeitgeber, es fehle Geld, und zusammen mit drei älteren Männern wurde Abdullah zur Polizei gebracht und dort über Nacht festgehalten. Nach drei Tagen wurde er freigelassen. Anklage gegen ihn wurde nicht erhoben.

Abdullah erzählt: „Sie sagten: ,Wir lassen dir Zeit. Schreib auf ein Blatt Papier, wer das Geld gestohlen hat.‘ Wir sollten alle etwas aufschreiben. Aber das funktionierte nicht. Dann riefen sie die Polizei. Sechs oder sieben Leute waren da (auf dem Polizeirevier). Sie haben mir die Augen verbunden. Dann führten sie mich in einen Raum. Ich mußte mich hinlegen. Der Boden war feucht.

Ich hatte zwar immer noch die Augen verbunden, aber ich konnte fühlen, wie sie mir etwas auf die Zehen legten. Ich konnte nichts sehen, aber ich bin mir sicher, daß es etwas Rundes war. Er gab mir einen Elektroschock, und der Schmerz kam das ganze Bein hoch. Es war so schlimm, daß ich dachte, ich sterbe. Ich konnte meine Beine nicht mehr fühlen. Ich hab' geschrien. Ich hab' geweint und gesagt, daß ich nicht sagen würde, daß ich es war, nur weil sie mir weh tun. Aber sie haben einfach weitergemacht.“

Seine Mutter berichtet: „Ich wollte ihn umarmen, aber er wich aus, entzog sich mir. Er war schmutzig und roch nach Urin. Ich konnte nicht aufhören zu weinen. Er war nicht mehr wiederzuerkennen. Voll blauer Flecken. Und mit Blutspuren auf Gesicht und Hals. Sein ganzer Körper war mit Blutergüssen übersät. Ich bin zur Polizei gegangen und habe gefragt, warum sie das getan haben.“

Ein unabhängiger Arzt untersuchte Abdullah und bestätigte, daß er gefoltert worden war. Frau Salman ging zur Staatsanwaltschaft. Ein Polizist wurde angeklagt und zu drei Monaten auf Bewährung verurteilt. Inzwischen ist er wieder auf seinem Posten.

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Mahir Goktas aus Izmir ist 14 Jahre alt. Im Dezember 1995 wurde er zusammen mit 16 anderen Teenagern von der Polizei verhaftet, die ihn beschuldigte, Mitglied einer illegalen politischen Organisation zu sein. Mahir wurde nach dem Anti-Terrorismus-Gesetz von einer Terrorbekämpfungseinheit der Polizei festgehalten. Mahir berichtet: „Zuerst haben sie mich ausgezogen und mich unter die kalte Dusche gestellt – in der Toilette. Dann gingen sie mit mir in das Zimmer zurück und fingen mit den Elektroschocks an. Die Drähte wurden an den Zehen meines rechten Fußes festgemacht, und dann gaben sie mir auch noch Elektroschocks durch die Hoden. Und in die Arme und die Brust. Ungefähr 15 oder 20 Minuten lang. Ich bin fast ohnmächtig geworden, dann haben sie mich mit kaltem Wasser begossen. Sie sagten, wir schütten Kalk über dich, dann bist du tot. Sie wollten, daß ich irgendwelche Verbrechen zugebe. Sie setzten sich zusammen und entschieden unter sich, wem sie was anhängen wollten. Ich wurde beschuldigt, Plakate geklebt und Molotowcocktails geworfen zu haben. Sie schrieben selbst die Schulderklärungen, wir sollten sie unterschreiben. Ich erinnere mich nicht, irgendwelche Erklärungen auf der Polizei abgegeben zu haben. Ich habe nur die vorbereiteten Erklärungen unterschrieben.“

Den Eltern wurde der Zugang zu ihren Kindern verwehrt. Sie wendeten sich an ihren Parlamentsabgeordneten Sabri Ergul. Als er das Polizeigebäude betrat, hörte er Schreie. Ergul erzählt: „Ich ging zu dem Zimmer, aus dem die Schreie kamen, und öffnete die Tür. Als ich eintrat, sah ich eines der Mädchen vollkommen nackt auf dem Boden liegen. Ihre Augen waren verbunden. Eines der Kinder stand, ein weiterer Junge, den ich kannte, saß. Und noch ein Junge stand in dem Zimmer. Ich war entsetzt, total unter Schock bei diesem Anblick. Fünf oder sechs Polizisten waren um das Mädchen auf dem Boden herum, und auf dem Tisch stand ein Apparat, der, glaube ich, für Elektroschocks war. Auf etwas Derartiges war ich nicht im mindesten vorbereitet, ich stand einfach nur da, total unter Schock.

Später habe ich die medizinischen Berichte über die Kinder gelesen. Sie sind bei den Schocks ohnmächtig geworden, man hat ihnen Gummiknüppel in den Anus gesteckt, die Mädchen sind sexuell mißbraucht worden und mußten ins Krankenhaus gebracht werden. Davon stand in den Polizeiunterlagen natürlich nichts. Ich sammelte im Krankenhaus alle Unterlagen ein, schrieb auf, was ich gesehen hatte, und veröffentlichte einen Bericht. Eine Kopie meiner Unterlagen übergab ich der Premierministerin und hängte einen Anschlag in ihrem Flur auf, auf dem stand: ,In der Türkei wird gefoltert.‘ Aber sie (Tansu Çiller) zeigte keinerlei Interesse.“

Nach den Verhören hieß es, die Kinder hätten gestanden. Ihnen wurde der Prozeß gemacht, aber ihr Abgeordneter sammelte Beweise, die zu einem weiteren Prozeß führten, diesmal gegen zehn Polizisten, weil sie Kinder im Schulalter gefoltert hatten.

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Ein weiterer Fall ist der von Döne Talun. Sie lebt mit ihrer Familie in einem der Slums von Ankara, in die sich selten ein Tourist verirrt. Sie war 13, als die Polizei sie aufgriff. Man behielt sie einen Tag auf dem lokalen Revier, dann wurde sie einer Sondereinheit übergeben, die sie ins Polizeihauptquartier von Ankara brachte. Die Polizei beschuldigte sie, eine Brieftasche gestohlen zu haben. Sie führten sie in ein kleines Zimmer und befestigten ihre Hände an einem Apparat.

„Ich war zu Besuch bei meiner Tante in Cubuk. Ich hatte Hunger und kein Geld. Da hab ich mir von einem Stand ein süßes Brot genommen, aber der Verkäufer hat mich geschlagen, und ich lief weg. Sie faßten mich und brachten mich zur Polizei ... Immer wenn sie die Maschine wieder einschalteten, hatte ich das Gefühl, daß mir die Augen aus dem Kopf springen. Sie machten die Augenbinde los, und ich sah ihn vor mir stehen. Da waren auch noch andere im Raum. Er hörte auf mit den Elektroschocks und fing an, mich auf den Rücken zu schlagen. Mit seinem Walkie- Talkie schlug er mir auch auf den Kopf. Meine Augen fühlten sich an, als wollten sie aus dem Kopf springen, und ich schrie, aber sie hörten nicht auf. Sie sagten, ich soll aufhören zu schreien, und traten mir in den Rücken.

Dann ging er zu dem elektrischen Apparat und schaltete ihn wieder an. Ich fragte, von welcher Brieftasche sie redeten, aber er stellte einfach das Ding wieder an. Dann warfen sie mich in ein anderes Zimmer. Der Tag verging, und dann fingen sie wieder an, mich zu schlagen. Sie berührten auch mein Gesicht mit dem Elektroding. Ich habe immer noch die Narbe davon. Dann sagte er, daß sie mir, wenn ich eine Frau wäre, noch Schocks an anderen Stellen gegeben hätten und daß ich froh sein sollte, daß ich nur ein Mädchen bin.“

Ein Mitglied der Familie, Ender Buyukculha, sagt aus: „Als wir von Dönes Verhaftung erfuhren, waren wir ernstlich in Sorge. Denn trotz all unserer Bemühungen dementierte die Polizei, daß sie bei ihnen war, und hielt sie 24 Stunden lang fest. Nach ihrer Entlassung sahen wir die Folterspuren an Döne. Sie sind von der Menschenrechtsvereinigung und dem medizinischen Institut des Justizministeriums dokumentiert worden. Der Bericht der ,Ankläger‘, der sich auf diese medizinischen Berichte stützt, hat die Folter weder bestätigt noch dementiert. Insofern kann man sagen, daß die Folter als Tatsache akzeptiert wird. Aber in dem Bericht steht auch, daß die Folter nicht von den Polizisten vorgenommen wurde, die in der Untersuchung erwähnt sind. Das heißt nichts anderes, als daß der Staat weiß, daß gefoltert wird, daß er die verantwortlichen Beamten aber nicht identifizieren oder vor Gericht bringen will.“

Dönes Familie brachte ihren Fall vor den Staatsanwalt. Nach einem Jahr wurde entschieden, keine Anklage zu erheben.

Dönes Mutter Cemile Talun sagte: „Ein kleines Mädchen sollte nicht so behandelt werden. Wenn sie etwas getan hat, dann gibt es dafür bei uns Gerichte und eine Staatsanwaltschaft. Und wenn es nötig ist, muß sie bestraft werden. Aber geschlagen werden für etwas, das sie gar nicht getan hat? Sie ist doch noch ein kleines Mädchen.“

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Auf einem türkischen Friedhof pflegt ein Vater ein namenloses Grab. Er glaubt, daß hier sein 14jähriger Sohn Çetin begraben liegt – aber sicher sein kann er nicht. Çetin Karakoyun wurde von der Polizei im Zusammenhang mit dem Diebstahl eines Fernsehers verhaftet. Am nächsten Tag ließ man den Vater, Imam Karakoyun, holen. Man sagte ihm, Çetin sei vom Balkon gefallen und an den Verletzungen gestorben.

Çetins Vater: „Der Polizeichef nahm mich am Arm, und wir gingen die Straße auf und ab. Er sagte: ,Es tut mir sehr leid, es hat einen Unfall gegeben, und Ihr Sohn ist tot.‘ Ich sagte: ,Um Himmels Willen, wie ist er gestorben? Was ist passiert? Wo ist mein Sohn? Zeigen Sie ihn mir!‘ Er sagte, ich soll mich beruhigen. Und daß sie Geld für mich gesammelt hätten. ,Wir geben es dir. Rede nicht darüber. Du hast nichts gesehen, wir haben nichts gesehen.‘“

Aber Imams Mißtrauen war geweckt, und er kontaktierte eine lokale Menschenrechtsorganisation. Diese erreichte die Herausgabe des offiziellen medizinischen Dokuments über die Todesursache. Darin stand, daß Çetin schwer geschlagen worden war und durch eine Kugel in den Kopf starb. Die Polizei erklärte dazu, einer von ihnen habe seine Waffe gesäubert, als sich versehentlich ein Schuß löste, der Çetin tödlich traf.

Imam Karakoyun weiß nicht, was er glauben soll. „Es gibt ein Gesetz. Es gibt Gerechtigkeit. Wenn er etwas gestohlen hat oder sich sonst was hat zuschulden kommen lassen, hätten sie ihn einsperren können. Wozu sollten sie ihn umbringen? Wozu foltern und ermorden sie einen 14jährigen Jungen? Warum haben sie ihn umgebracht? Es war kein Unfall, sie haben ihn umgebracht.“

Der Polizist, der Çetin Karakoyun erschoß, wurde verhaftet und wegen fahrlässiger Tötung angeklagt. Er blieb drei Monate in Haft, dann war er wieder frei. Er wurde nicht von seinen Pflichten entbunden und versieht zur Zeit ganz normal seinen Dienst.

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Was in türkischen Polizeigebäuden geschieht, bleibt in der Regel geheim. Nurhan Varli war selbst 23 Jahre bei der Polizei; sie ist die Tochter eines Polizisten, auch ihr Mann ist Polizist. Sie beschrieb die Folterkammern der Polizei.

„Ich habe ein solches Zimmer in einer anderen Abteilung gesehen, das war gegenüber von wo ich arbeitete. Sie sind mit schalldämpfendem Material ausgekleidet, damit man die Schreie der Menschen nicht hört. In die Wände sind Ringe eingemauert, und es gibt andere Folterinstrumente, zum Beispiel Holzstöcke, mit denen man auf die Fußsohlen schlägt. Dann gibt es die Elektroschockapparate, die leicht überall hintransportiert werden können, wo man sie braucht. Das alles habe ich selbst gesehen. Um jemanden zum Geständnis zu bringen, werden psychische und physische Druckmittel angewandt. Zum Beispiel läßt man die Verdächtigen nicht schlafen, läßt sie auf einem Bein stehen, Salz essen, gibt ihnen nichts zu essen und zu trinken, schlägt sie und gibt ihnen Elektroschocks.

Der Text ist eine auszugsweise Zusammenstellung der Dokumentationssendung „The Young Turks“ (Granada Television), die in Großbritannien im November 1996 in der Reihe „World in Action“ lief. Weitere Informationen zum Thema über website: http:// www.granadatv.co.uk/worldinaction