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Digitale Tanzschule

■ Der New Yorker Choreograph William Forsythe schreibt in Frankfurt Tanzgeschichte und stellt in London eine choreographische Rauminstallation vor

Daß er in zwei Jahren seinen Fünfzigsten feiert, glaubt ihm keiner. Dazu sitzt William Forsythe viel zu jungenhaft und unbekümmert da. Die sportlich-lockere Kleidung signalisiert also nicht nur, daß es im Ballettsaal nebenan gleich um choreographische Arbeit gehen wird. Ein Termin jagt den anderen, denn Forsythe ist inzwischen nicht nur wichtigster Choreograph der internationalen Tanzszene, sondern leitet seit letztem Sommer auch noch das Frankfurter Avantgardetheater am Turm (TAT). In den Genuß kam er, weil Frankfurts Oberbürgermeisterin Petra Roth Kulturpolitik mit dem Scheckbuch betreibt und Tom Stromberg, der das TAT zu dem machte, was es ist, letzten Sommer wegen überzogener Sparforderungen zurücktrat. Plötzlich hielt Forsythe mehr Fäden in Händen, als ihm lieb sein konnte. Das Programm des TAT ist im Moment zwar nicht mehr, was es einmal war, aber die hervorragenden Verbindungen mit Künstlern in aller Welt vor die Hunde gehen lassen wollte er nun doch nicht.

Das ist edel, denn eigentlich ist er schon mit seiner eigenen künstlerischen Arbeit bis an die Grenzen belastet. Und das nicht nur, weil er seine Choreographien der letzten Jahre als work in progress ständig weiterbearbeitet und in seiner zweiten Residenz, dem Pariser Théatre du Chatelet, sowie in Gastspielen von São Paulo über New York, Hongkong und Tokio präsentiert. Der Amerikaner aus New York hat zusammen mit dem Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) jüngst auch eine CD-ROM fertiggestellt, die es ab der nächsten Buchmesse im Handel geben wird und die gerade mit dem New Yorker Preis „New Voices, New Visions“ ausgezeichnet wurde. Forsythe stellt anhand von Beispielen seiner choreographischen Arbeit eine Art digitale Tanzschule vor; per Mausklick kann man sich die Realisierung von Bewegungsideen während der Probe und die Anwendung auf der Bühne zeigen lassen. Speichervolumen 4 Gigabyte, Forsythe selbst wiegelt eher ab und meint, die CD-ROM sei nebenbei entstanden und hauptsächlich für den internen Gebrauch gedacht.

Mit zum Bild des multimedialen Forsythe gehört, daß er seine grenzüberschreitende Bewegungsrecherche seit dem Osterwochenende um eine weitere Variante bereichert hat und in London „Tight Roaring Circle“, seine erste „choreographische Rauminstallation“, vorstellt. Zu sehen ist sie im Roundhouse, einem ehemaligen viktorianischen Rangierbahnhof aus dem Jahr 1849. Konzipiert hat er die Rauminstallation zusammen mit Dana Caspersen, die schon seit einiger Zeit nicht nur Tänzerin seines Balletts ist, sondern exponiert an seinen Choreographien mitarbeitet. Eingeladen wurde Forsythe von der Artangel Commission, die Künstler einen Raum ihrer Wahl gestalten läßt und sich vor vier Jahren für Rachel Whiteread und ihr inzwischen legendäres „House“ entschied (siehe taz vom 27.11. 93).

William Forsythes „Tight Roaring Circle“ wird von ihm selbst als aufblasbares Schloß beschrieben, in dem sich die Zuschauer bewegen und kleine Texte aus Dantes „Inferno“ lesen. „Alles schwingt hin und her und ist instabil, obwohl die Installation an die anderthalb Tonnen wiegt. Das Schloß ist ungeheuerlich groß, die Zuschauer werden mit den Texten aus der ,Göttlichen Komödie‘ konfrontiert sein und gleichzeitig damit kämpfen, nicht hinzufallen.“

Während er das beschreibt, wird allerdings klar, daß er seine Arbeit eigentlich gar nicht beschreiben will und dem gesprochenen Wort eher mißtraut. Er ist Perfektionist und müßte auch perfekt beschreiben können, was er macht. Und er nimmt es vor allem dann sehr genau, wenn man ihn auf seine choreographische Arbeit anspricht, mit der er wie kein anderer zeitgenössischer Choreograph Standards vorgibt. Er ist ein Bewegungserfinder, und wenn er dabei unter anderem mit sprachlichen Versatzstücken oder Videomonitoren experimentiert, ist das mit seinen Bewegungserfindungen immer innerlich verzahnt.

In „Six Counter Points“ etwa, das Anfang letzten Jahres Premiere hatte (siehe taz vom 24.1. 96) und ab dem 8. Mai wiederaufgenommen wird, konnte man sehen, daß Forsythes Bewegungssprache inzwischen eine derartige Virtualität erreicht hat, daß die Bewegungen unbeeinflußbar zu geschehen scheinen. Die Bewegung ist ein Konstrukt; die Körperteile sind Konstruktionsteile.

Wichtig in diesem Zusammenhang, daß digitale Systeme in seiner choreographischen Arbeit eine immer größere Rolle spielen. Er versteckt das nicht, sondern zeigt offen auf der Bühne, womit er arbeitet. Der PC, so Forsythe, organisiere allerdings lediglich choreographische Abläufe und habe anders als in der Musik, wo man mit ihm Töne moduliere, keinen Einfluß auf das Material – die Bewegung.

Der eigentliche Effekt der zunehmenden Digitalisierung im Tanz: „Durch den Computer können wir in unseren Choreographien einen anderen Fluß von Zeit geben, der für Zuschauer sehr deutlich zu spüren ist.“ Vor allem der DAT-Recorder habe die choreographische Arbeit entscheidend erleichtert, sagt er, da durch die digitale Tonaufzeichnung auch die exakte digitale Zeitmessung möglich geworden sei. „Wir blenden während der Vorstellung, nur für die Tänzer sichtbar, die DAT- Zeit ein. Sie wissen also immer auf die Sekunde genau, wo in der Choreographie wir uns gerade befinden. Das heißt, wir können mit Realzeit anstatt mit Taktzeit arbeiten. Die Tänzerinnen und Tänzer sind völlig entspannt und brauchen nur hinzusehen, um zu wissen, wann genau ihr Auftritt ist.“

Und wenn er dann beschreibt, daß sie in immer größerem Maße auch zu Mitchoreographen geworden sind und er seine eigene institutionelle Macht als Ballettdirektor dabei in Frage stellt, könnte man den Frankfurter Ballettsaal für einen Hort der Mitbestimmung halten. Das stimmt allerdings nur bedingt, räumt Forsythe ein. Sicher, im Frankfurter Ballett wird systemisch gearbeitet, vorgegeben werden lediglich Strukturmittel wie 1992 in „Alie/na (c) tion“, als die Tänzer sich an den Schnitten im Film „Alien“ orientierten und innerhalb dieses Systems ihre Bewegungen entwickelten. Am Ende solch eines Prozesses allerdings muß eine Person eine Auswahl treffen. Und die heißt William Forsythe. Jürgen Berger

„Tight Roaring Circle“ ist bis zum 20. April zu sehen. The Roundhouse, Chalk Farm Road, London NW1. Dienstag bis Freitag 17 bis 21 Uhr; Samstag und Sonntag 15 bis 20 Uhr

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