■ Schlagloch
: Turbulenzen im Vorgarten der Macht Von Klaus Kreimeier

„Was meinst du wohl, was passiert, wenn wochenlang in Deutschland Autobahnen blockiert werden, Brücken besetzt sind und die Politiker sich nicht mehr ohne Schmährufe bewegen können?“

(Fragesteller im Internet)

Ja, was würde dann wohl passieren? Ein Lügner, wer nicht zugäbe, daß er sich nicht dann und wann solche Bilder ausmalt und sie – je nach gesellschaftlichem Standort – mit lust- oder angstbesetzten Vorstellungen dekoriert. Gedanken sind frei, auch solche, die der Wunsch gezeugt hat; etwas anderes ist es, sie öffentlich auszusprechen. In diesem Land genügt es ja, halbwegs politisch interessiert zu sein, um aus Kanthers Sicht dem „gewaltbereiten Potential“ zugezählt zu werden. Versuchen wir also, in aller Ruhe öffentlich darüber nachzudenken, was passieren würde, wenn in Deutschland die Unzufriedenen militant würden und wochenlang die Autobahnen besetzen würden.

Ein Anlaß zum Nachdenken ist ja da, seitdem einige tausend Kumpel von Rhein und Ruhr, bedroht von der Kürzung der Kohlesubvention, an strategischen Stellen der A 1 Position bezogen und kurzfristig den Verkehr zum Erliegen brachten, soweit dieser nicht von der „flexibel“ reagierenden Polizei zuvor umgeleitet worden war. Lehrmeister waren die Kurden, die mit dem intuitiven Gespür von Underdogs, die sich auf feindlichem Terrain bewegen, zuerst erkannt hatten, daß die von Hitler konzipierten Autobahnen heute zu den Nervensträngen eines hochmobilen kapitalistischen Gemeinwesens gehören.

Die Lektion war eindeutig: Mit rebellierenden Kurden macht der Staat, auf sein Gewaltmonopol pochend, kurzen Prozeß. Zudem eignete sich der Kasus ausgezeichnet, um vor dem Amphitheater der zuschauenden Nation ein Exempel des Umgangs mit unbotmäßigen und notorisch unbeliebten Ausländern zu statuieren. Den deutschen Bergarbeitern hingegen – traditionell der Elite der Arbeiterklasse zugerechnet, mittlerweile freilich zu Geiseln der Steuerpolitik degradiert – erlaubte man, „ein Zeichen zu setzen“: ein Zeichen, das „kontextuell“ mitnichten von der Gewaltdebatte, um so mehr von der Debatte über Staatsverschuldung, Energiepolitik und Arbeitslosigkeit determiniert war. Die Militanz der Bergarbeiter beeindruckte. Zum „Kohlekompromiß“ kam es allerdings erst, als die Kumpel in der Bannmeile vor dem Bundeskanzleramt aufmarschiert waren – in jenem sakrosankten Bereich also, den die bürgerliche Demokratie vorsichtshalber vom Feudalabsolutismus übernommen hat, um in kritischen Situationen den verfassungsmäßig abgesicherten feudalen Knüppel schwingen zu können. So weit kam es nicht – es genügte, daß der Onkel im Kanzleramt den garstigen Buben erst die Tür öffnete, nachdem sie versprochen hatten, nicht mehr unartig zu sein und das Toben in seinem Vorgarten einzustellen.

Nicht nur weil mit zweierlei Maß gemessen wird, ist die Debatte über die heute praktizierten Protestformen und über die im Protest virulente Gewalt eine verlogene Angelegenheit. In ihr schwingt eine politische Lebenslüge mit, von der alle Beteiligten zehren – die Fetischisten des staatlichen Gewaltmonopols ebenso wie jene Protestbewegungen, die notgedrungen die „Gewaltfreiheit“ zum Prinzip erhoben haben, obwohl sie genau wissen, daß erst die kalkulierte Regelverletzung unter Anwendung einer genau bemessenen Dosis von Gewalt die Dinge ins Rollen bringt. Kalkulierte – und damit auch schon ritualisierte – Regelverletzung ist in der funktionierenden Demokratie ein treibender Faktor der Meinungs- und Willensbildung geworden.

In eben dem Maße, in dem sich die Diskussion über den Widerstand gegen den Castor-Transport zu einer Diskussion darüber verschoben hat, wie teuer es ist, das staatliche Gewaltmonopol aufrechtzuerhalten, zeigte sich, daß alle involvierten Parteien das Kostenargument dringend benötigen, um Punktgewinne im „Diskurs“ zu machen. Die Atomkraftgegner benötigen die Kostenfrage (und die sie illustrierenden Bilder einer martialisch gerüsteten Polizeimacht), um an diesem Beispiel zu beweisen, daß dieser Staat keine Ausgaben scheut, um zum Atomstaat zu mutieren. Die parlamentarische Opposition rechnet die Kosten nach, um der Regierung vorzuhalten, daß sie ein hirnrissiges Entsorgungskonzept verfolgt. Und die Regierung jongliert mit den 100 Millionen, um die AKW-Gegner zu kriminalisieren und dem Steuerzahler einzuhämmern, wieviel Geld er aufbringen muß, um sie in Schach zu halten.

Somit erweist sich die „begrenzte Regelverletzung“ als anschlußfähig an den Sachdiskurs. Mehr noch: Sie dynamisiert die öffentliche Debatte und ermöglicht Kompromisse, soweit die Demokratie noch funktioniert. Vermutlich wird, noch vor dem dritten Castor-Transport, dem „Kohlekompromiß“ ein „Energiekonsens“ folgen, der niemanden zufriedenstellen und den Konflikt nur auf eine neue Stufe (und in ein anderes Bundesland) verlagern wird.

Erst wenn mit der Verabschiedung des Sozialstaats das Potential an Unzufriedenheit in dieser Gesellschaft „unberechenbar“ werden und die Regulierungsmacht der demokratischen Institutionen an Magie einbüßen sollte, stellt sich die Frage nach den besetzten Autobahnen akut. Zwar haben sich unsere 68er-Hoffnungen auf eine „revolutionäre Situation“, mit einem Wort von Wolfgang Pohrt, als „Folklore“ erwiesen und die Hoffnungen auf die revolutionäre Subjektkraft der Arbeiterklasse auch. 30.000 Thyssen-Stahlkocher vor den Glastürmen der Deutschen Bank – das war, als hochaufgeladenes Symbol, auch ein Hyperlink in die ebenso theatralische wie ruinöse Vergangenheit der proletarischen Bewegung und zugleich, bis in die Details der Inszenierung, ein postmodernes Bild, das die SPD und die Medien dankbar aufgriffen, um die uralte Debatte über die Macht der Banken aufs neue zu entfesseln.

Dennoch: In jeder sozialen Bewegung, erst recht in jeder noch so ritualisierten Regelverletzung lebt eine Erinnerung an die „systemsprengende“ und gleichzeitig rechtsetzende Qualität der Gewalt in der Geschichte, die sich jeder moralischen oder legalistischen Debatte über die Formen der jeweils ausgeübten Gewalt entzieht. Die Regierungen kennen dieses historische Erbe – dies erklärt ihre permanente Nervosität und ihre „Überreaktionen“.

Daß diese Erinnerung verblaßt ist und heute ausgerechnet die „Autonomen“ als ihre aufgeregten Kostümträger und aktuellen Folkloristen figurieren, ist nur daraus zu erklären, daß der soziale Frieden in unserem Land (in beiden Teilen unter höchst unterschiedlichen Bedingungen) mehr als vier Jahrzehnte fraglos war. Eben dies könnte sich ändern. Eher zu befürchten ist eine gewaltförmige Entwicklung, die wachsendem sozialem Unrecht entspringt, ohne selbst imstande zu sein, neue „Rechtsverhältnisse zu begründen“ oder die bestehenden zu „modifizieren“ (Walter Benjamin über die rechtsetzende Funktion des Streiks). Wochenlang besetzte Autobahnen wären dann wahrscheinlich nur eine der harmloseren Konsequenzen.