"EU kann die Demokratie gefährden"

■ Der ehemalige Präsident des Europaparlaments, Klaus Hänsch, über die neuen Chancen und Grenzen der Politik. Wenn Europa eine Chance hat, muß es nach den Prinzipien der parlamentarischen Demokratie geform

Klaus Hänsch, deutscher Sozialdemokrat, war bis zu seiner turnusgemäßen Ablösung am 14. Januar dieses Jahres Präsident des Europaparlaments in Straßburg. Hänsch gehört zu den Europaparlamentariern der ersten Stunde, deren Mitglied er schon 1979 wurde. Fünf Jahre später wurde der promovierte Politikwissenschaftler Spitzenkandidat der Sozialdemokraten bei den Europawahlen. Sein großes Renommee zeigte sich bei seiner Wahl zum Präsidenten des Europaparlaments am 19. Juli 1994, als er sich gleich im ersten Wahlgang mit deutlicher Mehrheit gegen seinen französischen Konkurrenten durchsetzte. Hänsch (58) ist derzeit stellvertretender Vorsitzender seiner Fraktion im Europaparlament.

taz: Herr Hänsch, gefährdet die Europäische Union die Demokratie?

Klaus Hänsch: Sie kann sie gefährden, aber sie muß sie nicht gefährden. Es ist klar, daß eine Europäische Union, in der Entscheidungen auf eine undurchsichtige, unkontrollierbare und nicht ausreichend legitimierte Weise zustande kommen, auch die Demokratie in den Mitgliedsstaaten aushöhlt. Wir haben aber eine Chance, die EU nach den Prinzipien, wenn auch nicht nach den Formen parlamentarischer Demokratie zu gestalten. Wenn uns das gelingt, dann ist die Europäische Union keine Gefährdung der Demokratie. Durch den Vertrag von Maastricht ist immerhin eine, allerdings sehr begrenzte Reparlamentarisierung der europäischen Gesetzgebung gelungen.

Aber sind nicht schon jetzt viele Kompetenzen, die ursprünglich einmal Sache nationaler Parlamente waren, den gewählten Abgeordneten entzogen?

Man kann nicht Europa wollen und zugleich alle Entscheidungskompetenzen behalten. Die nationalen Parlamente haben durch die Ratifizierung der verschiedenen europäischen Verträge eine Teilentmachtung akzeptiert. Aber das, was sie verloren haben, ging nicht etwa auf das Europäische Parlament über, sondern das war eine Ermächtigung an die Regierungen, im Ministerrat gesetzgeberisch tätig zu werden.

Es soll in der Europäischen Union in Zukunft eine noch sehr viel weiter gehende Zusammenarbeit als bisher in den Bereichen Außen- und Sicherheitspolitik und Wirtschaftspolitik geben. Was wähle ich eigentlich noch, wenn ich zur Bundestagswahl gehe?

Die Funktion nationaler Parlamente bleibt, die Regierung zu kontrollieren. Sie werden weiterhin der nationale Gesetzgeber für viele Bereiche der Politik sein. Und sie werden auch künftig über die Grundsatzfragen der europäischen Politik entscheiden. Es ist allerdings eine berechtigte Frage, ob der Nationalstaat auf längere Sicht zwischen Europa und Region zerrieben wird. Ich glaube, daß es so weit nicht kommen muß. Aber eine relative Schwächung des Nationalstaates auch gegenüber den regionalen Einheiten ist für viele Bürger in manchen Mitgliedsländern ein willkommener Nebeneffekt der europäischen Einigung. Denken Sie an Schottland oder Katalonien.

Aber was heißt das denn konkret, daß die nationalen Parlamente die Regierungen kontrollieren sollen? Die Parlamente können doch keine einzige europäische Verordnung ändern, die von den Regierungen beschlossen worden ist.

Richtig. Deshalb müssen die Gesetzgebungsaufgaben, die die nationalen Parlamente verloren haben, beim Europaparlament ankommen. Das Problem ist: Sie sind an die nationalen Regierungen delegiert worden. Damit machen die beides – sie machen sich ihre Gesetze selbst, die sie anschließend ausführen. Das ist unerträglich.

Wie soll denn die Stärkung des Europaparlaments genau aussehen?

Das Europaparlament muß bei der gesamten Gesetzgebung mitentscheiden können. Am Ende des Prozesses muß die Zustimmung beider Organe stehen, Ministerrat und Parlament. Und wenn die nicht zustande kommt, dann gibt's eben kein Gesetz.

Nun ist die Europäische Union ja kein Megastaat, sondern ein Gebilde sehr unterschiedlicher Staaten mit verschiedenen Kulturen, verschiedenen historischen Erfahrungen, verschiedenen Parteien, sogar unterschiedlichem Wahlrecht. Muß da nicht ein konstruktiv arbeitendes Europaparlament dauerhaft eine Fiktion bleiben?

Nein, überhaupt nicht. Man darf sich aber nicht vorstellen, daß die Kompetenzstruktur und Arbeitsweise nationaler Parteien auf die europäische Ebene übertragen werden kann. Das Europaparlament muß den Prinzipien der parlamentarischen Demokratie auf der nationalen Ebene folgen, aber nicht ihren Formen.

Was heißt das?

Zum Beispiel: Jedes nationale Parlament hat in der Gesetzgebung das letzte und alleinige Wort. Auf europäischer Ebene kann das Parlament nicht alleiniger Gesetzgeber und auch nicht alles entscheidender Gesetzgeber sein.

Warum nicht?

Weil die Zusammensetzung des Europaparlaments wegen der unterschiedlichen Größe der Mitgliedsländer zwangsläufig verzerrt sein muß. Der Grundsatz „ein Mensch, eine Stimme“ ist auf europäischer Ebene nicht auf gleiche Weise durchzuhalten wie auf nationalstaatlicher Ebene.

Von Abgeordneten des Europaparlaments wird ja erwartet, daß sie sowohl die Interessen ihres Landes als auch die Linie ihrer jeweiligen Parteien vertreten. Was überwiegt da?

Zunächst mal sind wir als Deutsche, Griechen, Niederländer und so weiter gewählt worden. Trotzdem finden wir in weit mehr als der Hälfte der Fälle eine gemeinsame Fraktionslinie. Aber es gibt im Europaparlament keine so geschlossenen Fraktionen, wie wir sie im nationalen Parlament kennen. Der Vertrag zwingt uns, daß wir mit absoluter Mehrheit entscheiden, wenn wir Einfluß auf den Ministerrat haben wollen.

Daher müssen wir uns über Fraktionsgrenzen hinweg zusammenfinden. Andererseits bedeutet die Tatsache, daß wir national gewählt worden sind, daß wir hin und wieder über Fraktionsgrenzen hinweg im nationalen Interesse zusammenarbeiten müssen. In dieser Hinsicht ähnelt das Europaparlament viel mehr dem amerikanischen Kongreß als den nationalen Parlamenten Europas. Ich persönlich halte das für einen Vorteil.

Glauben Sie vor diesem Hintergrund eigentlich, daß das Zeitalter politischer Parteien im traditionellen Sinne vorbei ist?

Die Erfahrung sagt ja, vor allem im politischen Bereich, daß etwas besonders lange weiterlebt, wenn man es für tot erklärt. Ein europäisches Parteiensystem als Kopie des nationalstaatlichen wird sich nicht entwickeln. Die traditionellen Ideologieparteien aus dem vorigen Jahrhundert können auf der europäischen Ebene noch weniger eine Fortsetzung finden als auf der nationalen. Es gibt doch Punkte, wo ich mich als deutscher Sozialdemokrat zum Beispiel niederländischen Christdemokraten sehr viel näher fühle als französischen Sozialisten. Die Bedeutung der traditionellen Parteien wird relativiert auf europäischer Ebene, aber deswegen entwickelt sie sich nicht auf Null hin. Natürlich bleiben die großen Strömungen erhalten. Interview: Bettina Gaus