Das Recht auf Drama

Eine späte Uraufführung und ein farbensprühender, sehr zeitgenössischer Bilderbogen dazu: Alexander Hawemanns Inszenierung von Arnolt Bronnens „Recht auf Jugend“ in Potsdam  ■ Von Nikolaus Merck

Am Anfang greifen zwei Hände aus dem Vorhangschlitz, suchen Halt, verkrampfen sich im roten Samt. Dann lugt ein Kopf hervor, ein Gesicht, das seherisch verkündigt: „Und in dieser entsetzlichen Pein – da machte ich die Entdeckung, daß ich aufstehen muß – auf gegen das Alter, um mich und euch alle zu erlösen.“

Mein Kampf? Da beschloß ich, Politiker zu werden? Hans Harder, rotes Haar, siebzehn Jahr, macht's eine Nummer kleiner. Im Kampf für das „Recht auf Jugend“, gegen den „Zwang“, die „Kultur“, die „stinkende Lügenjauche unserer Eltern“ ist es nur eine Schülerrevolte, die er anzettelt. Aber mörderisch geht's trotzdem zu. Weil's nun mal Märtyrer braucht im „heiligen Kampf für eine neue Zeit“, stößt er den Freund aus dem Fenster, opfert die Freundin, massakriert den Vater und schließlich sich selbst.

Da aber Drama immer eine Geschichte erzählt, die fürs Ganze steht, geht es in Arnolt Bronnens 1913 entstandenem Erstling, „Recht auf Jugend“, gleichsam prophetisch eben doch (unter anderem) um den Mann aus Braunau, weil das Stück von den Energien erzählt, die die Nazis für ihre Sache auszubeuten wußten. Der literarischen Vorkriegsmode des phantasierten pubertären Vatermords folgten der jubelnde Einzug in die Schützengräben und der realpolitische Selbstmord der patriarchalischen Bürgergesellschaft im Ersten Weltkrieg.

Die Unlust am Dasein ging nach rechts in die Freikorps, nach links in die Revolution. Und wurde enttäuscht im faulen Kompromiß der Weimarer Demokratie. Erst die braunen Marschkolonnen verliehen den dumpfen Sehnsüchten nach Ziel und Führung, der Lust am Glauben, an der gefühligen Gemeinschaft den gültigen Ausdruck. In der Rückschau nimmt „Recht auf Jugend“ diese Stimmungen vorweg.

Über Bronnens Großerfolg mit „Vatermord“, von gleicher Motivik und gleichem Stil, geriet das Debüt in Vergessenheit. Für die Potsdamer Uraufführung nach achtzig Jahren hat Alexander Hawemann das siebenaktige Monsterdrama des siebzehnjährigen Professorensohnes aus Wien auf ein Viertel des ursprünglichen Umfangs eingeschmolzen. Und das, was übrigblieb, als Material benutzt für eine ingeniöse inszenatorische Transposition in die Gegenwart.

Die Szene: halb Tiefgarage, halb Höhle aus Beton, schiefstrebig, neonbeleuchtet (Ausstattung Sybille Gädeke). Darin die Jung- Neurotiker der Gegenwart. Notorisch Zufriedenheit behauptend. Bewußtlos gehalten mit Zuckerbrot und Peitsche. Von Musik in Trance versetzt, vom Lehrer (Peter Pauli), einem Gevatter Tod mit Hupe, kommandiert. Hier hilft keine Agitation, hier hilft nur Verführung. Sie setzt am Egoismus an: „Ich erfüll' euch jeden Wunsch“, verspricht Hans (Robert Kuchenbuch), ein roter Wuschelkopf in Panties und kariertem Hängehemd. Ei, wie das lebendig wird und fingerschnipst, ungeduldig hüpft und sich Sachen wünscht, viele Sachen! Die hier gewaltsam rebellieren, suchen nicht idealisch nach der „neuen Sonne des Gefühls“, sie wollen bloß einen Platz an der alten Sonne, den aber subito. So kommt Wirklichkeit ins Spiel, die rechten Baseballschläger lassen grüßen. Das ist nicht Bronnen, das ist Hawemann, und es ist gut.

Doch nur der Blechtrommler Franz Winter im bunten Frack (Falilou Seck) und seine töricht selbstverliebte Schwester, die kleidchenknautschende Elsie Winter (Diana Dengler), lassen sich rekrutieren für den Jugendaufstand. Die anderen bleiben skeptisch, ängstlich, passiv. Franz killt den Lehrer, doch will er den Märtyrer nicht machen für Hans und die große Sache. Wo Worte nicht helfen, tut's ein Stoß aus dem Fenster. Der tote Freund erstarrt zum Denkmal der Bewegung, und das Unheil nimmt seinen Lauf.

Denn die Truppen des Alters sind mächtig und vielgestaltig. Hawemann pflückt Typenblüten, wo er sie findet. Harder senior knurrt Kurzbefehle aus der Armeesportklubjacke und läßt die Familie strammstehen (glanzvoll: Uwe Zerbe). In Abwesenheit des Haustyrannen wälzt sich Mutter Harder (Jutta Eckhardt) inzestlustig auf Hansens Büchern, ihre Fußzehen kitzeln ihm die Nase, die Finger sein Gemächt. Ein Grauen. Nicht anders die Elternriege bei Winters auf dem Sofa. Die Frau (auch Jutta Eckhardt), eine andere Mama Hesselbach, ignoriert Elsie auf hessisch, und Papa Winter (auch Uwe Zerbe) strebt lieber sektselig (nicht ins Maxim's, obwohl er so ausschaut) in die Oper als auf die Suche nach dem toten Franz-Sohn. Doch der Hauptfeind der Revolte ist Charles Winter (Robert Meller), ein seelenvergreister Student; erfolgsgestylt und von energischer Art preist er die Größe der Zeit: „Eine Vernunft, die eine solche Welt schaffen konnte, die muß doch in jedem von uns siegen.“ Viele „Alte“ sind des Hansens Tod. Auch wenn der zuletzt seine Bubenängste überwindet und in einem zehrenden Mord-Duett den Vater zur Strecke bringt.

Hawemann, 30 Jahre jung, in Belgrad ausgebildet und nach wenigen eigenen Inszenierungen in Cottbus, Potsdam, Schwedt schon Dozent an der Ernst-Busch-Schule in Berlin, entwickelt den Fortlauf der Handlung aus der Improvisation. Kleine Spiele charakterisieren die Figuren. Wenn Wände im Weg stehen, knallen Köpfe dagegen. Im Notfall vermeiden mitgesprochene Regieanweisungen und private Bemerkungen („Ich kann das nicht“) das dampfende Bronnensche Pathos. Mit Rammsteins „Komm in mein Boot“ geht es „Auf, auf zum Kampf“. Nicht alles macht Sinn, und mit drei Stunden ist die Aufführung viel zu lang. Doch der Spaß beim Betrachten dieses farbensprühenden Bilderbogens aus neuen und alten Nazihaltungen, DDR-Dumpfmeisterei und West-Hysterie ist beträchtlich. Die Inszenierung ist für Potsdam ein Glück und ein Versprechen für die Zukunft.

Potsdam, Theaterhaus Am Alten Markt: 5., 9., 25., 27.4., 19.30 Uhr