Netz des Himmels

■ Die Selbstmörder-Sekte Heaven's Gate hat versucht, auch im Internet Anhänger zu finden - aber mit mäßigem Erfolg

Wer sonst nichts weiß über das Internet, weiß wenigstens, daß es zu nichts Gutem führt. Die 39 Mitglieder der Sekte „Heaven's Gate“, die sich letzte Woche selbst getötet haben, scheinen dafür einen weiteren Beweis zu liefern. Nach den Pornos und den Rechtsradikalen nun also die Sekten. Dirk Schümer erkannte im Feuilleton der FAZ gleich eine „digitale Himmelfahrt“. Den Selbstmördern seien ihre Körper „beim Programmieren von künstlichen Welten nur hinderlich“ gewesen, nachdem ihr „charismatischer Führer sein Wahngebäude mit Hilfe der Informatik“ konstruiert habe.

Dirk Schümer meint das Internet, auch wenn ihm dieses Wort niemals aus der Kielfeder fließen wird. Tatsächlich hatte auch Heaven's Gate – wie viele andere Gruppen – versucht, im Internet Kandidaten für ihren Kult zu rekrutieren. Neben einer Selbstdarstellung auf einer eigenen Website belieferte die Sekte vor allem Newsgruppen wie „alt.conspiracy“, um neue Anhänger zu finden.

Das war auch bitter nötig. Heaven's Gate hatte unter verschiedenen Namen schon seit über zwanzig Jahren versucht, zahlende Mitglieder zu gewinnen. Ihre Blütezeit mit geschätzten 200 bis 1.000 Anhängern lag schon über zehn Jahre zurück, als 1995 die propagandistische Nutzung des Internets begann. Eine Massenbewegung entstand auch damit nicht. Mehr als 100 überzeugte Mitglieder konnte die Gruppe nicht nachweisen.

Sie lebten in der Regel in kargen Verhältnissen. Die Opfer der Selbstmordorgie waren, soweit bekannt, teilweise durch Schicksalsschläge wie den Verlust eines nahen Angehörigen aus ihrem bisherigen Leben gerissen worden. Daß sie ausgerechnet im Internet eine neue, nun allerdings tödliche Orientierung fanden, ist höchst zweifelhaft. In den Newsgruppen des Usenet tummeln sich zahllose Sekten, aber ebenso viele Kritiker – oft mit eigener Kult-Vergangenheit – und politisch engagierte Gruppen, die sich in aufklärerischer Absicht mit der Propaganda solcher Sekten auseinandersetzen.

Was die Schwärmer vom Himmelstor zu sagen hatten, war alarmierend genug. Ihre Beiträge werben mehr oder weniger deutlich für Selbstmord. „Ist es Zeit, um für Gott zu sterben?“ heißt es da zum Beispiel oder: „Der bevorstehende Heilige Krieg – auf welcher Seite stehst du?“

In ihrer mehr als zwanzigjährigen Rekrutierungserfahrung in der realen Welt hatte die Sekte gelernt, wen sie erreichen konnte. Im Netz bediente sie Diskussionsforen für religiös Suchende: ein Forum über biblische Prophezeiungen, ein buddhistisches – und auch ein atheistisches Forum. Aber auch bei politischen Aussteigern rechnete sie mit Sympathien. Sie schrieb in ein Forum über libertäre Politik ebenso wie in ein Forum für militante Rechtsradikale.

Esoteriker und Mystiker wurden in Foren über das Paranormale, Astrologie, außerirdische Besucher, nichtlineare Wissenschaft und ähnliches angesprochen. Die vermutlich anfälligsten Opfer suchte Heaven's Gate aber in Foren über Selbstmord, über Depressionen oder in solchen Newsgruppen, die sich der Hilfe für Mißbrauchsopfer und Mißbrauchstäter widmen. Mit einer „letzten Warnung für mögliche Überlebende“ versuchte die Sekte aus Diego Selbstmordgefährdeten zuzusetzen.

Doch in den meisten Newsgruppen ernteten die Ufo-Missionare hauptsächlich Hohn und Spott. Bestätigt wurde bislang lediglich, daß eines der Mitglieder schließlich doch über das Internet rekrutiert wurde. Der Kultgründer Marshall „Do“ Applewhite hatte jedoch entdeckt, daß er das Netz auch ganz anders für sich selbst nutzen konnte. Nicht zur geistlichen Erbauung von Gestrauchelten, sondern für handfeste Geschäfte. Lange Zeit hatte sich Applewhite als Musiklehrer und Opernsänger durchgeschlagen. Von einer katholischen Universität war er wegen einer homosexuellen Beziehung zu einem Studenten gefeuert worden, er bekam Depressionen und begann Stimmen zu hören – innere, nicht auf der Opernbühne.

Das Web diente als irdische Geldquelle

Dann traf er die astrologisch-esoterisch angehauchte Krankenschwester Bonnie Lu Nettles. Sie überzeugte ihn davon, von Gott auserwählt zu sein. Die beiden nannten sich fortan „Die Zwei“ – nach den beiden Zeugen im Buch der Offenbarung. Sie erwarteten, auf der Erde ermordet zu werden, um drei Tage später auf einer Wolke des Lichts – einem Ufo – in den Himmel zu fahren.

Zum Beweis der rein spirituellen Partnerschaft ließ sich Applewhite sogar die Hoden entfernen – einige seiner Anhänger folgten ihm beim Schritt ins Jenseits des Fleisches. Doch noch immer lebten Die Zwei in dieser Welt. Hier mußten die Rechnungen bezahlt werden. Zum Glück begann der große Internet-Hype. Applewhite erkannte seine Chance, nicht etwa, weil er im Datennetz der Erde entfliehen wollte, wie besorgte Kulturkritiker vorschnell vermuten mögen. Ganz im Gegenteil. Um seinen irdischen Lebensunterhalt zu bestreiten, gründete er 1996 die Firma „Higher Source“ und programmierte Websites für Firmen und Vereine.

Higher Source verlangte dafür nur etwa ein Viertel des in dieser Branche üblichen Preises, aus dem Namen allein schöpften die Kunden keinen Verdacht. Die Homepage der Firma (www.higher source.com) enthält denn auch nicht den geringsten Hinweis auf kultische Aktivitäten, es sei denn, man will die zur Zeit überall beliebten spacigen Grafiken und den Weltraumhintergrund als solche sehen. In eher konventioneller Form werden die preisgünstigen Dienste angeboten, zu den Referenzkunden gehören der Polo Club von San Diego, eine Filmproduktion, ein Importeur britischer Autos und mehrere Plattenfirmen.

Ganz anders aber der Server www.heavensgate.com, der die Lehren der Sekte verbreitete. „Roter Alarm“ blinkt es in grellroter Schrift, während sich ein Komet der Erde nähert. „Wir sind glücklich im Aufbruch von dieser Welt, um uns Ti's Mannschaft anzuschließen“, verkündet Applewhite „Do“ wenig später. „Wenn du das Material auf dieser Website studierst, wirst du hoffentlich unsere Freude und den Zweck unseres Aufenthalts auf der Erde verstehen können. Du kannst vielleicht sogar deine Bordkarte bekommen, um mit uns die Erde während dieser kurzen Öffnung zu verlassen.“

Im weiteren wird reichlich von einer „evolutionären Ebene über der menschlichen“, einem „Königreich des Himmels“ und dem lange erwarteten Zeichen geschwafelt, das der Komet Hale-Bopp bedeute: „Die Zeit ist gekommen für die Ankunft des Raumschiffs aus der Ebene über der menschlichen, das uns nach Hause in seine Welt mitnehmen wird, in den tatsächlichen Himmel.“ Manches ließt sich eher wie eine Strafe dieses Himmels. Mit besonders verquerer Logik wartet die Seite „Unsere Position gegen den Selbstmord“ auf: „Die wirkliche Bedeutung von ,Selbstmord‘ ist, sich gegen die Nächste Ebene zu wenden, wenn sie angeboten wird.“

Wer weiterlas, erfuhr, was gemeint war. Die Niederschriften zweier Schulungsvideos lassen sich auch in deutscher Übersetzung aufrufen: „Letzte Chance, die Erde zu verlassen, bevor sie vernichtet wird.“ Die deutsche Fassung könnte von Applewhite selbst stammen, der auch in Deutschland studierte und auftrat – oder von der 40jährigen deutschstämmigen Erika Ernst, die sich ebenfalls unter den Toten befindet. Und so liest sich das überwiegend: „Wenn du mit uns kommst, so kann deine Zeit hier verkürzt werden.“ Ein weiteres Video schließt mit den Worten: „Wir hoffen, für dich von Nutzen zu sein in dieser kurzen Zeit, vor unserer Abfahrt. Wir glauben, daß es eine sehr kurze Zeit sein wird. Unsere Gedanken werden bei dir sein.“

Wen das noch nicht überzeugt hatte, der durfte das Buch „Wie und wann das Tor zum Himmel durchschritten werden kann“ online lesen oder für 45 Dollar (einschließlich Porto) bestellen.

Wer aber doch lieber auf Distanz im Web bleiben wollte, wurde mit Links an gnostische Lehren weiterverwiesen, in denen Applewhite und seine Partnerin Parallelen zu ihrer eigenen Weltschau zu erkennen können glaubten. Gnostiker kommen freilich ohne Ufos aus, und erst der kollektive Selbstmord der Gläubigen machte das Gedankengebräu des Duos populär. Die häufig überlastete Adresse http://www .heavensgate.com hat Kultstatus erworben, die Sektendokumente werden inzwischen auf etlichen anderen Rechnern abrufbar gehalten – darunter auch bei der Washington Post.Bernd Kling

(bkling@berlin.snafu.de)