"Ganz klar ja", sagte der Kanzler gestern an seinem 67. Geburtstag zu einer erneuten Kandidatur 1998. Länger als Vorbild Adenauer regiert er schon. Doch seine Ära ist vorbei, egal, ob er die Wiederwahl schafft. Er ist der falsche Mann zu fa

„Ganz klar ja“, sagte der Kanzler gestern an seinem 67. Geburtstag zu einer erneuten Kandidatur 1998. Länger als Vorbild Adenauer regiert er schon. Doch seine Ära ist vorbei, egal, ob er die Wiederwahl schafft. Er ist der falsche Mann zu falschen Zeit.

Das Jawort vom Olymp der Macht

„Es ist fünf vor zwölf.“ Diesen abgegriffenen Satz aus den Zeiten der Friedensbewegung sprach zuletzt einer aus, der bis dahin als „wandelnde Entwarnung“ (Alexander Gauland) bekannt war: Helmut Kohl. Seine apokalyptische Drohung, ausgestoßen auf dem CDU-Parteitag im vergangenen Oktober, kennzeichnet ein irritierendes Schwanken zwischen Beruhigung und Panikmache. Sie markiert das eigentliche Ende der Ära Kohl, auch wenn seine Amtszeit noch dauert. Und dauert.

Die Meldung zu seinem erneuten Antreten – „ganz klar ja“ – zeigt, daß er die Nachricht nicht mehr mit einer Botschaft zu verbinden weiß. Helmut Kohl ist heute der falsche Mann zur falschen Zeit. Früher war er mit seiner Art der Volksberuhigung gegenüber einer stets aufgeregten Linken und den wenigen überdrehten Rechten jederzeit überlegen. Die hielten die Deutschen ebensosehr für gefährlich wie für gefährdet. Mal warf sich die davon gespeiste german angst auf die Friedensfrage, mal auf den Terrorismus, mal auf die Umwelt. Aber immer standen zwei Felsen in der brandenden Stimmung: die Ökonomie, an der alle heimlich doch am meisten interessiert waren, und der Kanzler, den all das wenig rührte. Heute wirft sich die german angst auf die Ökonomie selbst. Und der Kanzler selbst läuft wie in Panik durch die Lande: fünf vor zwölf.

Es liegt ihm nicht. Darum versucht er immer mal wieder, die von ihm selbst mit geschürte Unruhe zu schlichten. Um „fit“ zu werden für das nächste Jahrhundert“, müßten wir uns nur für „einige Jahre“ am Riemen reißen, heißt es dann. Aber diese Jahre dauern nun auch schon einige Jahre, und was ändert sich?

Helmut Kohl findet offenkundig keinen neuen Stil, weil etwas historisch Merkwürdiges geschieht: eine scharfe Krise im Verein mit nie dagewesenem Massenwohlstand. Der Kohlekumpel, der auf der Harley-Davidson zur Bonn-Demo fährt, ist das Wahrzeichen unserer Zeit.

Bislang hat die Politik die Opferpose, in die sich praktisch jeder – am wenigsten die wirklichen Opfer – warf, wenn es ans Verteilen ging, ruhig, heimlich spottend, ertragen. Schließlich waren die „Kämpfe“ immer nur das Vorspiel für den alsbaldigen Konsens, bei dem das Mehrprodukt verteilt wurde. Nun ist das Weniger zu verteilen, und das nicht für einige Jahre, sondern auf unabsehbare Zeit. Aber warum sollte Helmut Kohl nicht einen neuen Weg finden, um damit fertig zu werden? Weil sein Zutrauen zu den Deutschen mittlerweile gestört ist.

So ganz sicher war er sich wohl nie, daß seinen Landsleuten irgend etwas lieb genug sein könnte, um dafür erhebliche finanzielle Einbußen hinzunehmen. Darum versprach der Kanzler den Westdeutschen, die Einheit werde sie nichts kosten. Mag sein, daß er nicht wußte, wie teuer die Einheit wird, aber er wußte, daß sie sehr teuer würde. Seine Europapolitik enthüllt schon fast eine gewisse Verachtung der Wähler. Zum einen trieb er bei der europäischen Währungsunion das Kohlsche Diskursprinzip, große Dinge klein zu reden und kleine groß, auf die Spitze: Über die größte politische Entscheidung dieses Jahrzehnts verhängte er ein regelrechtes Diskursverbot. Zum anderen droht er, auf den Balkan verweisend, mit einem europäischen Bürgerkrieg, für den Fall, daß die EU nicht planmäßig vorankomme. Was muß der Mann von einem Volk halten, das er glaubt, nur mit den Mitteln der schwarzen Pädagogik zum Verzicht auf die Mark bewegen zu können?

Könnte es sein, daß am Ende die Politiker, gar der Bundeskanzler, über die Bürger genauso schlecht denken wie die Bürger über die Politiker? Ist der Anflug von Ekel etwa wechselseitig? Halten die Politiker ihre Wähler – Ausnahmen bestätigen die Regel – womöglich für faule, nur auf den eigenen Vorteil bedachte Absahner? Ja, tun sie.

Darum kann auch Helmut Kohl heute kaum mehr Politik machen. Im Namen von was sollte er den Deutschen, die er für Materialisten hält, Duldsamkeit gegenüber dem schwindenden Wohlstand abverlangen? Die einzige Motivation, die er für all die Sparpakete und Deregulierungen anzubieten hat, lautet: Gleich ist es vorbei, bald werden wir in die Normalität wachsenden Wohlstands zurückkehren. Da das nicht stimmt, läuft das Denkmal Kohl in eine immer klaffendere Glaubwürdigkeitslücke. Nun präsentiert sich Helmut Kohl als der große Erneuerer, der noch eine weitere Amtszeit braucht, um Renten und Steuern zu reformieren sowie die Arbeitslosenzahlen zu halbieren. Wird man ihm das glauben? Zwei Faktoren stehen dem im Wege: 1. seine Vergangenheit, in der er – bis auf die Einheit – innenpolitisch immer beruhigt und nie getrieben hat; 2. seine Zukunft, denn er hat keine.

Vielleicht schon seit 1990, spätestens aber seit 1994, agiert Helmut Kohl in seiner politischen Nachspielzeit. Er kann das Schicksal des Landes nicht mehr mit seinem verbinden. Daran ändert das Vorhaben nichts, noch eine halbe Legislaturperiode dranzuhängen. Seine private Vision 2000 bleibt: Wolfgangsee.

Er kann nicht handeln. Kann er wenigstens deuten? Die Deutschen können sich keinen Reim auf ihre Lage zwischen Wohlstandsgewohnheit und Verzichtserfahrung, zwischen Europäisierung und Globalisierung machen. Der einzige, dem sie hier allenfalls eine Deutung zutrauen, ist Helmut Kohl – der Mann, der mit der Geschichte spricht, weil er schon Geschichte ist.

Doch unter den vielen Worten, die er als Kanzler machen muß, zeigt sich: In Wahrheit schweigt Helmut Kohl. Gesucht ist jetzt ein Bundeskanzler, der mit der Aussicht dauerhaft schwindenden Wohlstands umzugehen weiß. Er müßte den Verzicht leidlich gerecht organisieren, ohne am dabei unvermeidlichen Schmerz Freude zu haben. Das alte politische Sprachspiel, in dem der reichste, gesündeste, artikulierteste, gebildetste, informierteste, mobilste, freieste und souveränste Bürger, den es je unter deutschen Himmeln gab, als armes Opfer – als Opfer der Politiker, der Unternehmer, der Ausländer der asiatischen Tiger – daherkommt, dieses Sprachspiel muß ein Ende haben.

Helmut Kohl wird eine Regierungserklärung dieser Art nicht halten können, weil er die Opferpose zu lange gestärkt und akzeptiert hat. Wer dann? Seine potentiellen Nachfolger aus der SPD betreiben das Illusionsspiel vom demnächst wieder wachsenden Wohlstand für die Massen nur noch heftiger.

Bliebe Wolfgang Schäuble: Ihm trauen viele die nötige Härte für die künftigen Aufgaben zu. Allerdings fragt sich, wie er dem Eindruck entgegenwirken will, von ihm sei neben der nötigen auch einige unnötige Härte zu erwarten. Einen nichtautoritären Weg, die Opferpose in eine Verantwortungshaltung zu verwandeln, hat er bislang nicht gefunden. Wolfgang Schäuble kann das auch nicht, solange das symbolische Zentrum der Republik von Helmut Kohl besetzt bleibt, bei dem alle Härten fahrig wirken und alle Verzichtsappelle doppelbödig. Kohl sitzt im Weg. Bernd Ulrich