Schabbes und Challa

Quirlig und laut geht es zu in der einzigen jüdischen Schule Polens. Ein Neuanfang voller Leben  ■ Aus Warschau Gabriele Lesser

Schaa-lom Alechem.“ Die Scheiben drohen aus den Fenstern zu fliegen. Piotr Kowalik, Religions- und Musiklehrer an der Jüdischen Schule in Warschau, schlägt die Gitarre, und 70 Kids gehen mit: „Schaa-lom Alechem.“ Miriam singt so laut, wie sie nur kann. Die Schulköchin, umweht von einem Duft nach warmem, süßem Backwerk, wiegt sich in den Hüften. „Schaa-lom Alechem!“ Helise Lieberman, die 39jährige Leiterin der Schule, balanciert ein Tablett mit Bechern für den Schabbatwein durch die Bankreihen.

Ohne sie gäbe es diese in Polen einzigartige Schule nicht. Als die amerikanische Jüdin im Herbst 1995 mit nur einer Klasse und insgesamt 18 Kindern startete, reagierten Freunde und Kollegen mit Skepsis: „In Polen? Gibt es da überhaupt noch Juden? Das ist doch ein einziger jüdischer Friedhof.“ So hatte die junge Dozentin aus New York auch gedacht, bevor sie im Jahre 1993 zum erstenmal nach Polen fuhr. „Ich habe dann sehr schnell begriffen, daß wir keine Zeit mehr verlieren dürfen, daß in Polen eine junge Generation von Juden heranwächst ohne Tradition und Geschichte. Wenn wir hier nicht sofort einschreiten, dachte ich, verhelfen wir Hitler noch nachträglich zum Sieg.“

Miriam, die heute Schabbes- Mama sein darf, zündet vorsichtig die beiden Festtagskerzen an und spricht den Segen: „Baruch ata adonai elohem melech haolam ascher kidschanu... Gelobt seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der Du uns heiligst durch Deine Gebote und uns befohlen hast, das Schabbatlicht anzuzünden!“ Mit den Armen beschreibt sie einen großen Kreis in der Luft und verteilt so das Licht bis in den letzten Winkel des Raumes. Szymon, der Schabbes-Papa, nimmt sein Amt nicht weniger ernst, rückt die Kippa auf seinem Kopf noch einmal zurecht und wartet, bis wieder absolute Stille herrscht. Dann segnet er den Wein, der in diesem Falle Traubensaft ist, und die beiden Challot, die Schabbatbrote. Am Abend gehen einige Kinder mit ihren Vätern in die Warschauer Nozyk-Synagoge.

Noch vor zehn Jahren wäre das völlig undenkbar gewesen. Über die neun jüdischen Gemeinden mit gut 2.000 Mitgliedern schien sich mit den Jahren eine Staubschicht aus eingetrockneter Trauer und Apathie gelegt zu haben. Noch 1995 meinte Czeslaw Jakubowicz, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Krakau: „Wir nehmen keine neuen Mitglieder mehr auf. Wir sind alt und sterben schnell. In ein paar Jahren ist alles vorbei.“ Doch damals hatte bereits Ronald S. Lauder, der Sohn der Kosmetikkönigin Estee Lauder, eine Stiftung gegründet, mit der er die Renaissance des jüdischen Lebens in Mittel- und Osteuropa finanziell unterstützte. In Österreich, Tschechien, Ungarn und Polen schossen jüdische Jugendklubs aus dem Boden, Synagogen erstrahlten in neuem Glanz, Kindergärten und Schulen öffneten ihre Tore, jüdische Zeitschriften entstanden.

„Es ist immer wieder rührend zu sehen“, erzählt Helise Lieberman, „wenn Eltern zum ersten Mal mit ihren Kindern in unsere Schule kommen, so schüchtern und unsicher. Die Kinder sind dann die besten Botschafter. Sie bringen ein ganz neues Lebensgefühl mit nach Hause: „Es macht Spaß, ein Jude zu sein!“ Für die Eltern, die Judentum nur mit dem Holocaust verbinden oder mit den antisemitischen Verfolgungen durch die polnischen Kommunisten, ist das eine ganz neue Erfahrung. „Die Nachfrage übersteigt all unsere Erwartungen. Aus ganz Polen rufen jüdische Eltern an und fragen, ob wir nicht bald ein Internat eröffnen könnten oder Zweigstellen in Breslau, Kattowitz oder Krakau. Momentan übersteigt das noch unsere Möglichkeiten. Aber in ein bis zwei Jahren wollen wir zumindest ein eigenes Schulgebäude für rund 200 Schüler haben, und dann müssen wir uns tatsächlich Gedanken über eine weiterführende Schule machen.“ Seit 1989 gibt es in Warschau auch einen jüdischen Kindergarten mit zur Zeit rund fünfzig Plätzen. „Wenn wir alle zusammen feiern, gehen wir meist ins Jüdische Theater. Das ist dann rappelvoll. Und wenn dann über hundert jüdische Kinder aus Warschau singen, spielen und tanzen, würde niemand auf die Idee kommen, eine Ausstellung mit dem Titel ,Die letzten Juden in Polen‘ machen zu wollen. Das hat es aber durchaus gegeben. Vor zehn Jahren glaubte niemand an eine Zukunft der polnischen Juden.“

Szymon stürzt mit lautem Indianergeheul an Helise Lieberman vorbei. Draußen locken die Sonne und ein nagelneuer Fußball. Miriam denkt sich ein Kreuzworträtsel in hebräischer Sprache aus: „Ist ,Pizza‘ ein leichtes Wort? Oder soll ich besser ,Telephon‘ nehmen?“ Piotr Kowalik verschwindet mit einer Klasse in einem Nebenraum. „Lecha dodi likrat challa...“, versuchen sich die Kids an einem neuen Schabbatlied. Danach stehen Maimonides, der jüdische Religionsphilosoph aus dem 12. Jahrhundert, und seine Lehre von den guten Taten auf dem Stundenplan. „Das Programm unserer Schule entspricht dem der staatlichen Schulen in Polen, zusätzlich bieten wir Hebräischunterricht an, außerdem ein Fach, das wir ,Jüdische Kultur‘ nennen. Dort lernen die Kinder den jüdischen Kalender kennen, die Feste und Traditionen aus der Thora und die Geschichte der Juden.“ Der neunjährige Andrzej hält ratlos zwei Zettel in der Hand und fragt seinen Lehrer: „Was ist besser: Wenn ich Ihnen etwas schenke und sage, daß es von mir ist, oder wenn ich Ihnen etwas schenke und Ihnen nicht sage, daß es von mir ist?“ Piotr Kowalik lacht: „Das sollst du selbst herausfinden! Überleg dir eine gute Begründung und schreib sie auf. Nachher diskutieren wir dann darüber.“

Eine Etage höher sitzen zwei Zehnjährige vor einem Computer und versuchen den englischen Vokabeltrainer auszutricksen. In der Bibiothek nebenan haben es sich fünf Stöpsel auf einer Decke gemütlich gemacht, die Kissen zurechtgestopft und „Die Welt der Entdecker“ aufgeschlagen.

Die Eltern sollen sich mit einem Beitrag von 300 Zloty im Monat an den Kosten der Schule beteiligen. Soviel verlangen die anderen Privatschulen zwar auch, aber allein von diesem Geld könnte die Lauder-Morasha-Schule nicht existieren, wie Helise Lieberman erklärt. „Außerdem haben wir ein eigenes Stipendiensystem, so daß nicht alle Eltern diesen Beitrag zahlen. Zu vier Fünfteln wird die Schule von der Ronald-S.-Lauder-Stiftung gesponsert. Wir bemühen uns, weitere Finanziers zu finden, denn mit dem Wachstum der Schule, so schön das auch ist, wachsen ja auch unsere Kosten.“ In der kleinen koscheren Küche wird nicht nur eine tägliche Mahlzeit für die Kinder gekocht, jeden Freitag und vor großen Festen verwandelt sich die Küche in eine Großbäckerei mit Bottichen, in denen der Hefeteig für die Challa, das Schabbatbrot, aufgeht. Nach ein paar Stunden stapeln sich in der kleinen Küche bis zu hundert süße Hefezöpfe. „Am Anfang war das Backen der Challa Teil des Unterrichts“, erzählt die Köchin. „Natürlich haben wir den Kindern dann auch das selbstgebackene Schabbatbrot nach Hause mitgegeben. Und so fing alles an. Jetzt versorgen wir halb Warschau mit koscherem Gebäck.“ Die Kinder essen zwar in den seltensten Fällen zu Hause koscher, doch die Mitbringsel der Kinder helfen den Eltern, eine bereits verlorene Tradition wiederaufleben zu lassen.

„Wir sind keine Dogmatiker oder gar Fundamentalisten. Ganz im Gegenteil: Wir fragen nicht einmal die Eltern, ob sie Juden sind oder nicht. Wir fragen nicht, warum sie ihr Kind zu uns geben wollen. Meist dauert es ein paar Wochen, manchmal auch Monate, bis die Eltern ihre Geschichte erzählen.“ Helise Lieberman macht eine lange Pause. „Wir lassen ihnen die Zeit, die sie brauchen. Wer nichts erzählen möchte, braucht dies nicht zu tun. Für uns zählt allein die Entscheidung der Eltern, ihr Kind in der jüdischen Tradition erziehen zu lassen.“

Niemand weiß genau, wie viele Juden es tatsächlich in Polen gibt. Die 2.000 Gemeindemitglieder mit einem Durchschnittsalter um die Siebzig rekrutieren sich aus der Generation der Holocaust-Überlebenden. Sie haben die letzte große Emigrationswelle im Jahre 1968 überdauert und pflegen ein nostalgisch geprägtes Judentum. Dann gibt es rund 6.000 Juden, die Hilfe von internationalen Organisationen erhalten. Noch einmal ein paar tausend sind in kulturellen oder sozialen Gesellschaften engagiert. Nach Schätzung des Jüdischen Weltkongresses leben in Polen rund 10.000 Juden. Der Rabbiner Michael Schudrich, der die Arbeit der Ronald-S.-Lauder-Stiftung koordiniert, geht von 30.000 Juden aus. Helise Lieberman bestätigt die höhere Schätzung: „Unter meinen Schülereltern sind viele, deren Eltern als ,versteckte Kinder‘ bei Katholiken den Krieg überlebten und dann jahrelang schwiegen – aus Angst vor Pogromen oder der antisemitischen Verfolgung durch die Kommunisten. Judesein nach dem Krieg war in Polen fast unmöglich. Erst nach der Wende von 1989 konnten sich die polnischen Juden wieder auf die Suche nach ihrer Identität machen.“

Die siebenjährige Sara hält eine 50-Groschen-Münze in die Höhe: „Wo ist denn der Synagogen-Kasten?“ fragt sie mit piepsiger Stimme. „Ich habe das Taschengeld von dieser Woche gespart.“ Piotr Kowalik strafft sich. Er deutet sogar eine leichte Verbeugung an. Fünfzig Groschen sind für die kleine Sara viel Geld. „Komm, ich zeig' dir, wo er steht.“ Der Brandanschlag auf die Warschauer Nozyk-Synagoge Ende Februar hatte auch in der Lauder-Morasha- Schule für viel Aufregung gesorgt. Die meisten Kinder waren mit ihren Eltern am Tag nach dem Brand hingefahren und hatten sich die verkohlte Eingangshalle des Gotteshauses angesehen. „Am nächsten Tag machten sie Vorschläge, wie man die Synagoge möglichst schnell wiederherrichten kann. Pinsel und Farbe wollten sie mitbringen, und nach zwei Tagen sollte die Synagoge wie neu aussehen.“ Helise Lieberman lächelt in sich hinein: „Dann habe ich ihnen erklärt, daß das Gebäude denkmalgeschützt ist und nur Fachleute die Schäden richtig ausbessern können. Das aber wird kosten. Und da sind diese Kinder doch auf die Idee gekommen, im Foyer der Schule einen Spendenkasten aufzustellen!“ Die Schulleiterin glaubt, daß der Anschlag auf die Synagoge ein Einzelfall war und bleiben wird. „Dennoch sind wir vorsichtig. Seit Januar beschützen uns einige „Gorillas“. Wir sprechen natürlich auch über den Antisemitismus in diesem Lande. Aber ich möchte nicht, daß die Kinder Ängste oder Komplexe entwickeln. Sie sollen ihr Judentum ganz selbstverständlich und normal leben.“ Wie zum Beweis steht Szymon, Schabbes-Papa und Indianer, in der Tür. „Können wir da etwas machen?“ fragt er kleinlaut und deutet auf das blutende Knie und die zerrissene Hose. „Der Fußball, hat – glaube ich – auch was abbekommen.“